Familientreffen 1990

Am  3. Juni 1990 trafen sich 34 Hurrelleute im Gasthof Mehrings in Hurrel zum ersten Mal.
Am 3. Juni 1990 trafen sich 34 Hurrelleute im Gasthof Mehrings in Hurrel zum ersten Mal.

Klaus der Journalist

Klaus ist einer, den es sofort getroffen hat. Ein genealogischer „Aktivist“ der ersten Stunde und als Journalist dazu noch ein begnadeter Schreiber. Kennen gelernt haben wir uns im so genannten „Kalten Krieg“ unter ganz schwierigen Umständen. Die Geschichte erinnert an einen Politkrimi. Ich machte mich 1988 auf, die amerikanischen Hurrelmänner zu finden. Ich war damals fest davon überzeugt, dass es dort Nachkommen gibt. Durch die Arbeit bei der damaligen Deutschen Bundespost hatte ich die Möglichkeit ins innerste der Auslandsauskunft in Frankfurt vorzustoßen. Und so habe ich mal eine halbe Nacht dort in den großen Schrankwänden mit der Aufschrift „USA“ alle damals verfügbaren Telefonbücher gewälzt. Erfolg gleich Null. Es gab keinen, der sich genauso schrieb. Ich habe aber alle notiert, die Hurlman oder Hurleman oder ähnlich geschrieben wurden und hab sie dann angeschrieben. Den Rest hatte ich schon weiter vorn erzählt. Nach etlichen Stunden Suche hatte ich USA komplett durchgekämmt. Kein direkter Erfolg. Morgens um 3 Uhr verließ ich die Auskunft und im vorübergehen sah ich 2 dünne graue Bücher mit der Aufschrift „Telefonbuch der DDR“ auf einem Tisch liegen. Ich bin mittlerweile so auf Namensverzeichnisse fixiert, dass ich auch dort schnell einen Blick hineinwarf. Und ich spüre heute noch den Schlag, den man bekommt, wenn man nichts erwartet und alles bekomm. Da stand doch tatsächlich unser Name eingetragen, nach denen ich stundenlang in Amerika gesucht hatte im Telefonbuch der DDR. Gleich nebenan. In Berlin. Klaus Hurrelmann, ich glaube es nicht. Natürlich alles gleich abgeschrieben und diesen Schatz mitgenommen. Die ganze Nacht hatte ich kaum geschlafen. Die Aufregung hier Verwandte zu finden, von denen bisher niemand was wusste. Aber es war ja anders aber das wusste ich nicht. Aber wie auch immer. Ich habe dann,  wie ich das immer gemacht habe am nächsten Tag gleich zum Hörer gegriffen und die erste Nummer „Klaus Hurrelmann, Berlin“ angerufen. Nach längerem Krachen und Knacken in der Leitung hörte ich es tatsächlich am anderen Ende klingeln…es klickt, eine Frauenstimme…

Was jetzt passiert, hat Klaus sehr schön in seinen folgenden Impressionen festgehalten:

 

Uralter Plebs 

oder:

Da weht der Atem der Geschichte ganz privat. 

Ab- und niedergeschrieben von Klaus Hurrelmann 

 

Ein Bericht über eine gewisse Spezies Detektive, die sich Genealogen nennen, sowie über ihre ans Kriminologische grenzenden Methoden, wenn sie irgendeine ins noch Unbekannte führende Spur verfolgen, vor allem aber über den Spaß, den einer haben kann,

sofern er diesen Schnüfflern ins Fahndungsnetz gegangen ist. Und ein Weniges dazu getan aus einer niederdeutschen Familiengeschichte.

 

Als Vorspruch

zu diesem Manuskript verwende ich einige Sätze aus einem Brief, den ich im Herbst 1990 aus Berlin nach Oldenburg schrieb: „Am 3. Oktober werden wir nun Bürger eines Landes sein. Menschen eines Volkes  waren wir wohl schon immer. Wem wäre das klarer und wer hätte dafür schönere Gründe, das zu empfinden, als wir Hurrelmänner?“ 

Es war einmal... Ein blutiger Laie beschreibt hier  Vorgänge, in deren Ergebnis er  sich - zunächst ganz ohne eigenes Zutun - jener Lehre näherte, die Genealogie genannt wird. Im Verfolg seiner Annäherung gewann er ein regelrecht innig zu nennendes Verhältnis zu dieser Wissenschaft. Gleich zu Anfang dieses Textes aber sei ausdrücklich betont, daß das Wenigste von seinem sachlichen Gehalt, nämlich von den darin enthaltenen Namen, Daten und Fakten, „auf dem eigenen Mist des Autors“ gewachsen ist. Sondern er hat lediglich allerlei Forschungsergebnisse zusammengesucht und auf- und abgeschrieben - so wie er sie verstand - für die sich andere (seines Namens!) redlich abgemüht haben.

Die Genealogie, auch als „Geschlechterkunde“ bezeichnet, verspricht mit der Floskel „es war einmal...“,  man werde

 

handfest Verbrieftes

 

über seine Vorfahren und seine Familiengeschichte erfahren. Bekanntlich ist die Chronik eines Menschenlebens stets irgendwie mit der großen Geschichte der Menschheit verwoben. Sensationelle Erfindungen, wirtschaftliche Entwicklungen, Naturereignisse, Seuchen, gesellschaftliche Umwälzungen, religiöse Konflikte, Kriege, Katastrophen und manches andere treiben jeden Menschen auf seinem Erdenweg um. Das alles zusammen zwingt unsereins, dazu als Zeitzeuge eine ganz persönliche, nämlich seine Haltung einzunehmen. Nicht immer geschieht das bewusst, oft auch unfreiwillig, vielfach ist es ein Automatismus, dem man einfach nicht entkommt. Aber immer bedingt das eine das andere. Vieles im Leben vollzieht sich unabhängig von unserem Wissen und Wollen. Mancher Haken, den wir auf unserem Werdegang geschlagen haben, war so, wie er von uns geschlagen wurde, gar nicht beabsichtigt, weder im Guten noch im Bösen. Waren wir wirklich immer unseres eigenen Glückes (oder Unglückes) Schmiede? Konnten wir das denn immer sein?

So wird man sicher in diesem Manuskript, nicht nur zwischen den Zeilen, etwas darüber herauslesen können, wie auch der Aufschreiber auf die dramatischen Zeitläufte reagierte, in denen sein und unser  Leben  stattfand und -findet, so manches Geschehen hat auch ihn gelenkt, ohne daß er etwas dazu konnte. Es wird ihm wahrscheinlich nicht immer gelingen, dabei auf bewertende Äußerungen zu verzichten. Vielleicht trägt das  zum gegenseitigen Verstehen - oder Mißverstehen - bei. Schließlich sind wir alle in erster Linie Menschen.

Wissen Sie, was ein Gothaischer Kalender ist? Nicht gerade eine Novität auf dem deutschen Büchermarkt... Schon Brockhaus' Konversationslexikon gab in seiner Ausgabe von 1893 Auskunft: „Genealogische Taschenbücher sind jährlich erscheinende, den dermaligen Personalbestand gewisser (adeliger, d.h. gräflicher, freiherrlicher, herzöglicher usw., K.H.) Familiengruppen bringende Veröffentlichungen... Unter ihnen hat sich der 'Gothaische genealogische Hofkalender' (seit 1764, in deutscher und französischer Ausgabe) und das 'Genealogische Taschenbuch der gräflichen Häuser' (seit 1825) erhalten, wozu seit 1848 noch das 'Genealogische Taschenbuch der freiherrlichen Häuser' gekommen ist.“ 

Gothaisches Taschenbuch: Was die können, können wir auch

Ins Neudeutsche übertragen handelt es sich bei diesen regelmäßig herauskommenden Publikationen also um jährlich ergänzte Nachschlagwerke der Art „Who is who?“ über die blaublütigen Familien hierzulande. Streng waren die Regeln, denen eine Familie genügen mußte, um in eine derartige Bestandsliste deutscher Adelshäuser aufgenommen zu werden. „Die Aufnahme ... geschieht vollständig kostenfrei, auch besteht keine Verpflichtung zum Bezuge der Taschenbücher...“, heißt es zunächst ganz harmlos im Vorspruch zur gräflichen Ausgabe von 1917. Aber dann:  „Zur Aufnahme in das Taschenbuch der Gräflichen Häuser ist erforderlich die Vorlage des den gräflichen Titel begründenden oder bestätigenden Diploms eines deutschen Fürsten (Österreich eingeschlossen) oder seiner Regierung (Ministerium, Heroldsamt, Adelsamt usw.). Ordens- und Offizierspatent, Taufscheine, Pässe u. dgl. können nicht als Diplome (Urkunden) in dem Sinne gesehen werden... Sämtlichen Aufnahmeanträgen ist eine genaue Beschreibung des Wappens, ebenso eine Stammreihe beizulegen, die, möglichst weit zurückreichend, zuverlässig aufgestellt, den Familienbestand aller Linien, Äste usw. zeigt.“

Wurde auf diese Weise etwa für immer und ewig

 

das alleinige Vorrecht Blaublütiger

 

festgeschrieben, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen? Jene Hochwohlgeborenen betrieben doch nicht zuletzt ihre exklusiven Studien, um die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft sowie ihres in den Zeitläuften zusammengerauften Besitzes nachzuweisen.

In jüngerer Zeit nun durchforsten zunehmend auch Leute plebejischen Standes die Vergangenheit nach Zeugnissen über ihre Vorfahren, ohne Respekt vor jenen einstigen, scheinbar für alle  Ewigkeit bestehenden,  Vorzugsrechten  der  Nobilitäten.  Dieses  Wissenwollen „Niedriggeborener“ entspringt gewachsenem Geschichtsbewußtsein und fördert es gleichermaßen. Gewiß spielt auch die im zwanzigsten Jahrhundert sich durchsetzende demokratische Normalität dabei eine gewisse Rolle. So wurde die Genealogie (Duden: Geschlechterkunde, Familienforschung) Tausenden „einfachen“ deutschen Menschen zum spannenden und lehrreichen Hobby. Auch mich zog es zunehmend, ich muß es immer wieder betonen, fast ohne eigenes Zutun, in seinen Bann.

Mittlerweile zählt die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Genealogie 52 Vereine mit über 15 000 Mitgliedern. Anzunehmen, daß diese Angabe inzwischen schon hoffnungslos veraltet ist und ständig aktualisiert werden müsste.

Ich denke allerdings nicht daran, milde das Mäntelchen des Schweigens über die offen-sichtlichen Schattenseiten der Genealogie zu breiten. Gerade hier, bei uns in Deutschland, darf  man  das  nicht.  Ich  hatte sehr lange sehr ernste  Bedenken gegen  Ahnenforschung schlechthin. Das kam aus der jüngeren Geschichte unseres Landes. Ist doch noch nicht einmal ein Menschenalter vergangen, seit deutschländische Ahnenforschung eine sehr anrüchige, schreckliche, beschämende  Sache war. Und zwar von Staats wegen. Bekanntlich aber war dieser für tausend Jahre konzipierte Nazi-Staat  nicht gerade gegen erbitterten Widerstand der Allgemeinheit unseres  Volkes entstanden.  Das will ich nicht vergessen.  Die Nationalsozialisten, an die Macht gekommen,  forderten schließlich von jedem „Deutschen“ auf Grund ihrer Nürnberger „Rassengesetze“ von 1935 den Nachweis eines „judenfreien“ Stammbaums bis zurück zu seinen Urgroßeltern. Dadurch wurde  der nazistische Rassenwahn  ein verbrecherisches Motiv dafür, systematisch seiner  Abstammung, und zwar der „arischen“,  nachzugehen. Das  gilt nun schon lange nicht mehr. Seit 1945, seit dem Jahr, das ich als Befreiung vom Faschismus empfinde. Ich bin in eine Familie und ein Umfeld hineingeboren, wo das so gesehen wird.

 

Aus Deutschlands finsterster Zeit: So harmlos begann der Holocaust

 

Aus den schwarzen Jahren unserer Geschichte stammt ein relativ harmloser Zeitungsartikel, der mit „Hanenkamp, Köhne und Eilers“ überschrieben ist und die Unterzeile „Ein Kapitel aus der oldenburgischen Sippenkunde“ trägt. Da gibt es folgenden Absatz: „Eine in der Wehde stark verbreitete Bauernfamilie sind die ‚Hurlings’. Schon 1581 waren sie in  Grabstede ansässig. Hurling kann soviel wie Hürling, also Heuermann sein. Man kann aber auch an eine Ableitung von Hurrelmann, der Mann, der aus dem Orte Hurrel (Ksp. Hude) einwanderte, glauben. Doch ist die erstgenannte Ableitung annehmbarer.“

Dieser Artikel hatte, was jeden Zeitungsmacher freut, ein Echo. Am 30. August 1942 schreibt ein Herr A. Hurrelmann aus Einswarden an den Verfasser, Herrn Wichmann: „Ein Verwandter von mir hat aus dem Archiv in Oldenburg festgestellt, daß im Jahre 1510 aus Ganderkesee und Hurrel wegen der Pest die Einwohner ausgewandert sind. Im Jahre 1510 erscheint in dem Kirchenbuche - in welcher Gemeinde, ist nicht mitgeteilt -

 

der erste Hurrelmann.

 

Die Eintragung lautet: ‚Jürgen, zugewandert aus Hurrel, Cöter mit Keule in Creuzmoor. Diesen hat man dann den ‚Hurrelmann’ genannt. Ihre Annahme, daß man den Mann aus Hurrel Hurrelmann nannte,  wird also richtiger sein.“

Ein Köter muß übrigens nicht immer eine bissige Hundetöle sein. in diesem Falle ist darunter der Inhaber einer  „Köterei“, das ist eine  Hofstelle (Kate) meistens ohne eigenen Landbesitz, zu verstehen. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, daß mir mein Vater, als ich noch recht klein war, schon von diesem „Köter mit Keule“ (was wohl eine Waffe war) erzählt hat. Daß der Jürgen geheißen habe, wusste er allerdings nicht. Und ich stellte mir in meiner kindlichen Phantasie unter  diesem  fernen  Vorfahren  -  im vorliegenden Text geht es nämlich um den Namen „Hurrelmann“ und seine Träger - als einen halbwilden grimmigen Mann vor, der, fellbekleidet, zähnefletschend und keulenschwingend, in Germaniens finsteren Wäldern auf Bären- und Auerochsenjagd gegangen sein mag.

 

*

 

Nazistischer Ahnenkult und seine millionenfach blutige Umsetzung seien nicht und niemals vergessen! Viele trugen den verbrecherischen Wahnsinn mit, und fast alle anderen ertrugen ihn. Der Rassismus hat längst noch nicht aufgehört, in diesem unserem Lande zu wirken. Oft, und da ist er leider gar keine Randerscheinung mehr,  unter einem neuen „Logo“ - Ausländerhass...

 

*

 

Da ist auch noch ein anderer, weit weniger tragischer, dennoch nicht zu vernachlässigender Einwand gegen die Methodik, mit der deutsche Familienforschung betrieben wird. Die Gegebenheiten verlangen es allerdings anscheinend zwingend und alternativlos, daß sie so betrieben werden muß, wie sie betrieben wird: Denn seit alten Zeiten pflegten sich die Frauen nach vollzogener Eheschließung, zumindest was den Namen betrifft, ganz und gar nach den Männern zu richten. Folglich spielen die Damen für diese Wissenschaft leider nur eine  untergeordnete Rolle. Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung empören sich darob, obwohl es gewiß lohnendere Felder und Anlässe für ihren Streit gibt. Und eine akzeptable Alternative zur jetzt üblichen Suche nach den sogenannten (halt männlichen) Namensträgern bieten solche Frauenrechtlerinnen auch nicht an. Aus diesem Grunde nehmen die Genealogen bis dato die Vorväter wichtiger als die Vormütter. Der Familienname bietet eine zuverlässige und sichere Leiter hinab in die Tiefen der Familiengeschichten.

Summasummarum: Man kann die Genealogie heute durchaus eine ernstzunehmende Wissenschaft nennen, eine lustbringende obendrein, die am wenigsten mit „Blut und Boden“ zu tun hat, dafür desto mehr Anregung gibt, sich gründlich mit der Kulturgeschichte unseres Volkes zu beschäftigen. Gesucht wird nach steinernen und papiernen Zeugnissen, gestöbert wird in Kirchenbüchern und weltlichen Chroniken, in Adressenverzeichnissen und  Matrikeln von  Hochschulen und Universitäten, in Katasterlisten und nicht zuletzt in den Musterungsunterlagen für den Militärdienst. Letztere wurden in Deutschland zu allen Zeiten besonders penibel geführt, wie man noch sehen wird...

 

*

 

So ist das bei uns in der DDR gewesen: Die „Tagesschau“ war ein Muß für jemanden, der aufmerksam in der Zeit stand. Und für aufgeschlossene Berliner wie uns war die „Berliner Abendschau“, die Regionalsendung aus dem Westteil der Stadt, ein ebenso zwingendes „Muß“. Nicht alles nahmen wir mit Zustimmung auf - es war

 

Kalter Krieg im Äther,

 

da fühlten wir uns bisweilen schon gekränkt oder missverstanden, vielleicht auch von der anderen Seite wissentlich (?) falsch informiert. Aber Bescheid zu bekommen darüber gehörte zu unseren Notwendigkeiten. Der Westen erwies sich in seinen Berichten und Kommentaren über uns, besonders, wenn's ans Lokale ging, allzuoft als oberflächlich und schlecht recherchiert. Manches war mit der heißen Nadel genäht. Inzwischen habe ich begriffen,  daß dies ein allgemeines  Charakteristikum freier  Medien ist, geschuldet  dem Konkurrenzdruck. Der Wettlauf um die „Erstinformation“ verbietet  nicht selten gründliche Überprüfung.

 

Sei’s drum - wie gründlich mein Sohn Thomas zu recherchieren und zu notieren versteht, beweist ein erhalten gebliebner Zettel von seiner Hand: „23.IV.87: ARD/SFB - ‚Berliner Abendschau’ - Gerd Hurrelmann (suspendierter Schuldirektor)“. Da hat er etwas notiert, was schlagartig unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Mit Langzeitwirkung für alle Berliner Hurrelmanns!

 

Also, die „Berliner Abendschau“. Durch diese Sendung waren wir ziemlich auf dem Laufenden über das Geschehen bei den Nachbarn jenseits der Mauer. Da war also am 23. April 1987 dieser Bericht über einen Schulstreik in Berlin-Neukölln gesendet worden. Schüler und Eltern eines Gymnasiums protestierten energisch gegen die „von oben“ geplante Entlassung des Stellvertretenden Direktors. Diese Information hätten wir gelassen zur Kenntnis genommen. Das wäre für uns so gewesen, als ob in China ein Sack mit Reis umgefallen wäre. Doch als der Name dieses Direktors genannt und gar mit deutlich lesbarem Schriftzug eingeblendet wird, gerät für Thomas die Meldung zur Sensation: Der Mann heißt  Gerd Hurrelmann! Bis dahin waren wir, die Familien meines Bruders Peter und die meinige, der Ansicht,  in Deutschland ziemlich einmalig zu sein. Für den Osten waren und blieben wir ja auch wirklich exquisit...

 

Und so ist das bei uns in der DDR auch gewesen: Vom gewöhnlichen Volk durften nur die Rentner „rüber“. Bei uns im Haus gab es eine bereits ältere Frau, die eine Besuchserlaubnis besaß, um  ihrer noch älteren Tante in Westberlin im Haushalt helfen zu können. Diese Nachbarin also baten wir: Schauen Sie doch bitte beim nächsten Mal dort  drüben im Westen im  Telefonbuch nach, ob da ein gewisser Gerd H. eingetragen ist. Wenig später hatten wir seine Adresse. Dadurch wurde ich in die Lage versetzt,  einen Brief an diesen unbekannten G. Hurrelmann zu richten. Darin erklärte ich ihm, auf welche Weise wir auf ihn aufmerksam geworden seien und außerdem, was ich aus Erzählungen unseres Vaters und einigen Familiendokumenten über unsere Vorfahren wusste. Ob es da vielleicht gewisse familienhistorische Gemeinsamkeiten gäbe. An „Genealogie“ dachte ich noch nicht im Entferntesten, als ich meinen Brief aufsetzte. Lange blieb mein mauerüberquerendes Briefsignal ohne Echo.

 

Fast geriet die Angelegenheit in Vergessenheit. War die Stasi beim Postkontrollieren auf diese illegale gesamtdeutsche Aktivität gestoßen und hatte unseren Annäherungsversuch abgewürgt? Doch am 18. Oktober 1988 endlich ein Brief aus Bielefeld, von einem gewissen Klaus(!) Hurrelmann: „Mein Bruder übersandte mir Ihren Brief vom April dieses Jahres... Ich würde mich freuen, wenn wir uns weiter informieren könnten.“

 

Da begannen wir

 

zunächst zögerlich eine Korrespondenz.

 

Man kann ja nie wissen... Irgendwann bekamen wir dann auch einen kleinen Zeitungsbeitrag in die Hände, der sich mit dem Geschehen um den für uns noch unbekannten Westberliner Hurrelmann beschäftigte. Die Zeitung „Die Wahrheit“ schrieb am 25./26. April 1987: „Damit für die Schüler der 2. Gesamtschule in Kreuzberg keine nachteiligen Folgen entstehen, haben die Lehrer dieser Schule am Freitag den regulären Unterricht wieder aufgenommen. Die Proteste gegen die Suspendierung des kommissarischen Schulleiters Gert  Hurrelmann  reißen dennoch nicht ab.  Der  Neuköllner Personalrat der Lehrerinnen und Lehrer wandte sich in einer am Freitag veröffentlichten Presseerklärung gegen die Willkürhandlung des Kreuzberger Schulamtes. Er kritisierte scharf die Argumentation des Volksbildungsstadtrates von Kreuzberg, Engelmann (CDU), der Hurrelmann ‚unloya-les Verhalten’ vorgeworfen hat, weil dieser die Proteste der Schüler seiner Schule nicht unterbunden habe. Der Personalrat fordert die sofortige Aufhebung der Suspendierung.“

Junge, Junge, da „drüben“ war ja ganz schön was los! Wenngleich man aus dieser Art Pressemeldung so gut wie gar nicht erfuhr, was eigentlich los war. Übrigens wussten wir damals inzwischen schon genau: Der Mann heißt Gerd mit weichem „t“, wie unsere sächsischen Landleute zu buchstabieren pflegten. Das harte Endungs-„t“ in der Zeitungsmeldung war ein Druckfehler. Oder eine Schludrigkeit.

Nahezu parallel  zu den eben beschriebenen Vorgängen entwickelte sich eine andere atemberaubende Ost-West-Deutsche Dramatik, die jetzt unbedingt zu beschreiben ist. Denn mir gilt sie als eigentlicher Ausgangspunkt unserer Integration in den Hurrel-Clan.

Ein Abend im Jahre 1988. Ich bin wieder einmal von Berufs wegen als sogenannter Austauschredakteur für Wochen zu den Rußlanddeutschen nach Kasachstan verschwunden, ich soll und will ihnen helfen beim Gestalten einer modernen deutschsprachigen Tageszeitung. Wir hatten dafür das schöne russische Wort „Kommandirowka“, was Dienstreise bedeutet. Meine Frau Heidi weilt folglich allein zu Hause in Berlin. Das Telefon klingelt. Sie meldet sich, gar nicht konspirativ, also so, wie wir  das gewohnt sind - mit unserem Namen.

 

Es folgt ein Gedächtnisprotokoll des so begonnen  Ferngesprächs.

 

- „Hurrelmann...“

- „Hier ebenfalls.“

- „Peter?“

- „Ja, Peter.“

- „Von wo rufst du denn an?“

- „Aus Oldenburg.“

 

Von hier ab  bedarf dieses Gespräch näherer Interpretation. Denn für meine Frau bricht in diesem Augenblick eine Welt zusammen: Nun auch Peter! 1988 war die Flucht- und Ausreisewelle aus der DDR bereits alarmierend angeschwollen. Anscheinend hat sie nun auch den Bruder ihres Mannes in den Westen geschwemmt... Da seine von ihm im Stich gelassene Familie zu Hause keinen Telefonanschluß besitzt (das war eigentlich DDR-„Standard“), liegt es nahe, daß der gewissenlose Schuft sich nach offenbar geglückter Flucht zuerst bei der Familie seines Bruders meldet, damit die schlimme Nachricht an diejenigen,  welche  sie am meisten angeht,  schnell  und zuverlässig weitergegeben wird. Wenn Peter so skrupellos ist, einfach zu verschwinden, scheint dieser feige Weg plausibel, seine Frau und seine beiden Söhne von diesem egoistischen Schritt in Kenntnis zu setzen.

Tausend Gedanken rasen durch den Kopf meiner erschütterten Heidi. Endlich lacht es schallend am fernen, anderen Ende der Telefonleitung: „Ich heiße auch Peter Hurrelmann und bin einer, der Hurrelmänner sammelt wie andere Briefmarken. Ich arbeite bei der TELEKOM und fand Ihre Rufnummer im Ostberliner Telefonbuch...“ Ein besessener Familienforscher.

So bald als möglich lasse ich, auf Herrn Hurrelmanns Bitten, nach diesem ersten (fern)-mündlichen Kontakt alle in unserem Besitz befindlichen Hurrelmann-Dokumente fotokopieren, schicke sie nach Oldenburg. Der  dortige Peter  kommt dadurch auf einen Schlag ein gut Stück weiter bei seinen mit aufwendiger Sucharbeit verbundenen genealogischen Erkundungen. Der Stammbaum, an dem er arbeitet, treibt einen neuen Ast.

Auch mit Klaus Hurrelmann,  namhafter Professor an der Universität Bielefeld, setzt sich gelegentlicher brieflicher Austausch fort. Er war übrigens schon früher auf mich aufmerksam geworden: Leipziger Verwandte hatten ihm davon erzählt, daß es in der Ostberliner Illustrierten FREIE WELT einen Reporter seines Namens gäbe. Und ein Kollege von ihm hatte in einem Antiquariat einen kleinen Bildband aufgestöbert, den dem Autorennamen nach der Bielefelder geschrieben haben müßte. Der war's aber nicht. Sondern tatsächlich der Ostberliner Journalist. Übrigens hatte an dessen (nämlich meinem) felsenfesten Glauben, Deutschlands einziger K.H. zu sein, inzwischen auch schon ein freundlicher  Arbeitskollege gerüttelt, der zu jenen wenigen auserwählten Ostjournalisten gehörte, die Westzeitungen lesen durften. Dieser  hielt mir eines Tages ein  Exemplar der „Feindpresse“ unter die Nase und fragte mit süßsaurem Lächeln, auf einen mit „Klaus Hurrelmann“ gezeichneten größeren Beitrag zu gesamtdeutschen Jugendproblemen deutend: „Sag mal, seit wann publizierst du denn in der Bundesrepublik?“

Eines Tages meldet sich der Oldenburger Peter wiederum per Telefon  bei uns: Er sei gerade zu Besuch in (West)Berlin, ob wir uns nicht bei dieser Gelegenheit einmal persönlich kennenlernen könnten. Irgendwie passt uns solch spontaner

 

Überfall „wildfremder Leute“

 

auf unser trautes Heim an diesem Wochenende so kurz vor Weihnachten nicht in den Kram (18.12.1988). Also ziehe ich allein los zu einem Treffpunkt in der Stadt, lotse Peter (Oldenburg) und seine Frau Edith in eine Gaststätte im Ost-Berliner (Vorzeige)-Nicolai-Viertel. Wir verstehen uns von Anbeginn an, sind uns irgendwie sympathisch. Und ich bekomme etwas geschenkt, das mich regelrecht umhaut: Die „Vorläufige Familienforschung mit Stammtafel Hurrelmann“.

Zunächst ist unsereins aus weiter oben dargelegten Gründen ja recht mißtrauisch und bleibt auch distanziert, wenn er mit Ahnenforschung konfrontiert wird, dieweil er „Völkisches“ wittert. Das, was Peter an Daten über längst verblichene und auch über lebende Träger des Namens Hurrelmann liebevoll in ein System gefügt hat, aber erinnert absolut nicht an „Blut und Boden“. Das beruhigt mich.

Jeder von uns „Hurrel-Leuten“ kennt inzwischen dieses hellblau gebundene Bändchen und hat sich mehr oder weniger gründlich damit beschäftigt: Darin sind nicht nur familiäre Ereignisse - Geburtstage, Heirats- und Sterbedaten - aufgelistet und einander zugeordnet worden, nein, und  das macht die Sache so interessant, sie werden, wo das möglich ist, in Zusammenhang gebracht mit regionalen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, ökologischen und sozialen  Begebenheiten,  die das  Leben unserer  Vorfahren beeinflusst haben könnten. Auch von Naturkatastrophen erfahren wir, von Seuchen, von Sitten und Gebräuchen. Peter, Edith und Klaus (nämlich ich) gehen als gute Bekannte auseinander.

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann wir dann mit jenem für uns als DDR-Bürger zunächst irrwitzig anmutenden Hirngespinst konfrontiert wurden, ich glaube durch den Bielefelder Klaus: „Ein  alter Gedanke von mir ist, alle Menschen, die den Namen Hurrelmann tragen, einmal zu einem Treffen nach Hurrel (bei Delmenhorst) einzuladen. Was halten Sie davon?“ - „Ich bin dabei!“, antwortete ich spontan-sarkastisch, „im Jahre 2001 werde ich Rentner, da kann ich dann kommen.“

Drängt sich beim Niederschreiben dieser Zeilen nicht eine Frage auf? Wo steckte seinerzeit  die  in der DDR allgegenwärtige Stasi-Schnüffelnase? Litt sie gerade an Schnupfen? Nach heute gültiger Legende hätten doch Klaus und Peter (Ost) unweigerlich mit scharfen Repressalien  rechnen müssen wegen unerlaubter Kontaktaufnahme zu Klaus und Peter (West). Oder, auch denkbar - Klaus und Peter (Ost) wären zu nachrichtendienstlicher Tätigkeit erpresst worden. Schließlich waren Klaus und  Peter (West)  recht  interes-sante Bundesdeutsche - der eine  prominenter Wissenschaftler an einer führenden Universität, der andere in verantwortlicher Position im Exportgeschäft der TELEKOM nach Osten... Kein Kommentar.

 

*

 

Längst sollte nun auch ein anderer Oldenburger Erwähnung finden - Günter Hurrelmann. Ist er doch am längsten in der Angelegenheit tätig. Seine Wiege stand direkt „in der Heimat unserer Vorväter“,  und so hat er gewiß die innigste Beziehung zu dieser für uns „Namensträger“ so bedeutungsvollen Gegend, zu ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Natur. Aus diesem Wissen heraus sammelt auch er jahrelang zwischen Weser und Ems Fakt um Fakt, geht mancher Spur nach.  Naheliegende  Flurnamen und  Ortsbezeichnungen machen seine Ahnungen naheliegend: Hurrelersand, Hurrelberg, auch Hurrelhausen, vor allem eben Hurrel selbst. Eines Tages stößt er folgerichtig auf Peter, der ja auch in Oldenburg wohnt. Peter, Günter und Klaus (West selbstverständlich)  schließen sich kurz.

 

Immer enger knüpfen sie das Fahndungsnetz,

 

es bekommt System. Aufgehängt ist es an Hurrel, einem winzigen Dorf bei Hude im Oldenburgischen, das heute nicht einmal mehr eine eigene Postleitzahl besitzt.

 

Um noch etwas über einen „hurrelträchtigen“ Namen in der Umgegend zu melden: In einer lokalen Zeitung erschien vor Jahren unter der Überschrift „Bremen ut ole Tiden“ der Nachdruck einer alten Ansichtspostkarte. Der Text dazu: „Trunkenbolde, Ruhestörer und unliebsames Gesindel fanden zwangsweise ‚Quartier’ im ‚Rabenturm’, einem Turm des Gefängnisses ‚Hurrelberg’, das sich zwischen Wall und Ostertorswallstraße befand; also etwa dort, wo heute das Polizeigebäude steht. 1906 wurde der Turm abgebrochen.“

 

*

 

Selbstverständlich kann man heutzutage auch solche ganz privaten Daten elektronisch verarbeiten und systematisieren. Der Computermarkt bietet  dafür reichlich Genealogie-Software an. Spezielle Programme helfen, alle Familien-Fakten schnell und übersichtlich zu ordnen. Peter, Informations-Experte, fügt auf diese Weise all das dem Vergessen entrissene Wissen über einstige Hurrelmänner zusammen, macht es gut lesbar -  in eben jener Stammtafel.

 

  *

 

Die folgende kleine Story erzählte der Bielefelder darüber, wie er Interesse fand an gründlicher, an Wissenschaft grenzende  Beschäftigung mit der  Entstehung seines  (unseres!) Familiennamens, die viele Jahrhunderte zurückliegt. Und wie ihn die Neugier darauf packte, zu erfahren, wie all die Menschen wohl gelebt haben mochten, die vor uns so hießen, wie auch wir heute noch heißen. Klaus geriet als Schulkind bei einem Wandertag mit seiner Klasse nach Jaderberg an der „Grünen Küstenstraße“. Der dortige Lehrer befragte seine jungen Gäste nach ihren Familiennamen. Als Klaus den seinen nennt, gerät der Schulmeister aus dem Häuschen. „Da begriff ich, daß unser Name, zumal in Niedersachsen, was Besonderes ist“, sagt der heutige Universitätsprofessor, „von da an war ich infiziert“.

All den Hurrelmännern, denen der ehrgeizige Fleiß dieser drei Laienforscher so viel Wissenswertes von früheren Geschlechtern unseres Clans präsentiert hat, sei auch noch eine weitere Methode geschildert, nach der Peter im weiten Kreis rings um Oldenburg auf Pirsch ging. Für seine ganz besonderen Treibjagden brauchte er Helfer, die er in seiner Familie fand. So setzte er an manchem Sonntag einen ganz spezifischen Wandertag an, blies zu einem eigentümlichen Jagdzug. Er ließ Frau Edith und die Kinder Wiebke und Malte auf allen möglichen Kirchhöfen ausschwärmen - es galt, alte  Grabstätten mit unse-rem unverwechselbaren Familiennamen zu entdecken. War man fündig, ging Vater später zu tieferen Recherchen ins Pfarrhaus. Und er arbeitete uralte Kirchenbücher in Archiven zu Hamburg, Hannover, Oldenburg und Berlin mit dem Eifer eines zähen Detektivs durch. Fügte Fakt an Fakt. Sohn Malte gestand mir später: „Mir wurde schon immer ganz anders, wenn sich bei unseren Fahrten wieder ein Kirchturm über den Horizont reckte. Denn dann ging es bald wieder los... Reihe für Reihe zwischen den alten Gräbern stöbern. Grabstein für Grabstein wurde inspiziert, Inschrift für Inschrift entziffert.“ Ich bin dem einstigen Knaben Malte dankbar, daß auch er immer wieder trotz seines Widerstrebens  unverdrossen  mitgemacht  hat. Wer  sich heute unsere Stammtafel und anderes zu Gemüte führt, wird froh sein, daß diese vier auch auf dem Felde der Gottesäcker nie den Mut verloren haben.

 

*

 

„Hurrel, ein Dorf am Geestrand“ (so der Titel einer von dem Heimatforscher Walter Janssen-Holldiek aus Hude bei Oldenburg verfassten, außerordentlich ergiebigen Dorfchronik) kann für uns Hurrelmanns Startpunkt aller genealogischen Exkurse in die Vergangenheit sein. Schließlich heißt es auch im „Deutschen Namenslexikon“ von Bahlow: „Hurrelmann (Hbg.): aus Hurrel (Moorort bei Delmenhorst), urkdl. Hur-Lo 'sumpfige Niederung'“. Ein Treffen „aller lebenden Hurrelmänner Deutschlands“ ebendort, wie vom Bielefelder Professor angeregt,  wäre nicht nur originell, sondern auch logisch. Die sogenannte Wende in der DDR machte es möglich, unversehens, viel schneller, als je gehofft! Ilse Hurrelmann, Mitveranstalterin des historischen ersten „Hurrel-Kongresses“: „Plötzlich ist das losgegangen wie eine Rakete. Jetzt konnten auch die Berliner kommen, weil die Mauer zerbrochen war.“ Und so erging am 18. März 1990 der Ruf „an alle, die den Namen Hurrelmann tragen oder getragen haben“ aus Oldenburg in alle Himmelsrichtungen, sich am Pfingstsonntag im Landgasthof „Landbäckerei Mehrings“ zu versammeln.

Am 5. Juni 1990 brachte die „Oldenburger Kreiszeitung“ ein eindrucksvolles Foto im Super-Breitformat (damit alle aufs Bild passten): Fast alle bis dato bekanntgewordenen  Angehörigen der Sippe aus beiden Teilen Deutschlands waren

 

dem Ruf nach Hurrel gefolgt!

 

„Die Teilnehmer (Bild) waren zum Teil von weither angereist... Für die meisten von ihnen war es die erste Begegnung, sicherlich aber nicht das letzte Treffen der weitverzeigten Hurrelmann-Sippe.“ Inzwischen ist Mehrings Gasthof, sozusagen im Herzen des Fleckens gelegen,  uns Hurrel-Leuten  richtig ans Herz gewachsen - wegen der freundlichen Art der Wirtsleute. Können wir etwa schon von einer Traditionsstätte reden? Ein typischer Dorfgasthof, mit Bäckerei, sonst würde er sich kaum rechnen. Und auch so ist er sicher keine Goldgrube, aber für uns eine feste Bank. Der einfache Festsaal ist wahrscheinlich nicht allzuoft einmal so gut besetzt wie bei unseren Pfingst-Begegnungen. Vielleicht noch bei den traditionellen Schützenfesten. Die Wirtin, Frau Ursel Mehrings, selbst eine emsige und ideenreiche Heimatforscherin, leistet viel für die Bewahrung und Pflege der dörflichen Kultur von Hurrel. Allein ihre in Platt geschriebenen Aufzeichnungen, für die sie auch hin und wieder Gedichtform wählt, geben dem Kenner und dem Suchenden viel. Hier mal ein Probe ihrer Art, über Hurrel zu schreiben: „Leewe Gäste altomol! Fein, hüt mol woller in Hurrel in’t Lokol. Von wiet und Siet, up Stroot und Pad, de meisten von jo keemen sicher mit’n Rad. Dat Wäer weer good, de Gegend schön, so kreegen ji unnerwegens ok moi wat to sehn; und use Hurrel is sehenswert.“ Mein armer Computer. Fast jedes Wort in dieser Passage hat seine automatische Rechtschreibkontrolle heftig bemängelt. Eine ganze Seite in diesem herrlichen Platt wurde Frau Mehrings in einem Fremdenführer „Zwischen Oldenburg und Bremen“ eingeräumt. Auch in Janssen-Holldieks vorerwähnter Chronik bekam Frau Mehrings Platz für ein ganzes Kapitel: Ihre im Jahre 1676 beginnende Geschichte der „Brinksitteree“ in Hurrel, auf der sich heute ihr Gasthof befindet. Wenn ich mal wieder zu Mehrings nach Hurrel komme, werde ich nachschauen, ob dieser sympathische Spruch dort noch an der Wand hängt: „Ik seh di! - Dat freut mi! - Ik sup di to! - Dat do! - Ik heb di tosapen. - Hast’n Rechten drapen.” Na, wenn das nicht auf uns Hurrels zutrifft!

Wohl oder übel muß nun aber auch ein Vorgriff in die ganze Tiefe der Heimatforschung geschehen.  Man möchte doch wissen, was  wir eigentlich unter einer „Brinksitteree“ zu verstehen haben? Der Duden enthält kein annähernd verwandtes Stichwort, hilft überhaupt nicht weiter. Wahrigs „Deutsches Wörterbuch“ gibt schon mehr Auskunft: Brink, ein niederdeutsches Wort, bezeichne ein hügeliges Stück Grasland, einen Grashügel. Und eine „Brinksitteree“ sitzt wohl oben auf so einem Hügel. So oder ähnlich erkläre ich mir das Wort.

 

Unser Wallfahrtsort Hurrel: Unsere Kathedrale Mehrings Gasthof

 

In „unserer“ Chronik über das Dorf am Geestrand schließlich gibt es einen ganzen Abschnitt „Die Brinkbesitzer“. Lesen bildet. Zumal, wenn man zu einem mit solcher Akkuratesse geschriebenen Buch greifen kann: „Das bis ins Indogermanische zurückführende Wort Brink bedeutet soviel wie Rand oder Ufer. Gelegentlich steht es auch für den in der Mitte des Dorfes anzutreffenden Grasanger wie hier in  Hurrel...  Ohne besonderen  Übergang taucht 1607 in Hurrel erstmalig in den Steuerlisten der Landesherrschaft die dritte Siedlergeneration der Brinkbesitzer auf...“

 

Ach, lesen Sie doch selbst. Ich versichere: Wer einmal angefangen hat, sich mit so quellenreicher Literatur zu beschäftigen, hört so leicht nicht wieder auf mit dem gründlichen Nachschlagen, tieferen Eindringen in die Sachlage. Man kommt vom Hundersten ins Tausendste, ohne sich zu verzetteln oder zu langweilen. Man lernt neue Begriffe, begreift Zusammenhänge, die man so früher nicht sah oder die man übersehen hat. Man durchschaut immer besser die Methodik genealogischer Forschung. Man braucht diese Materie bloß einmal anzupieken, und schon strömt ein kaum zu bändigender und kaum zu bewältigender Strom neuen Wissens auf einen zu.

 

Ist ja eigentlich kein passender Vergleich, aber ich geb’ ihn doch mal zum Besten: Was ich über uns und Hurrel in Bibliotheken, Archiven, unter persönlichen Aufzeichnungen und Dokumenten, das meiste davon aufgearbeitet durch Günter, Peter und Klaus, entdeckte, hat mich oft

 

mehr gepackt als ein Krimi.

 

An den Tag, an dem Walter Janssen-Holldiek, selbstverständlich im Tanzsaal von Mehrings  Gasthof, sein  Buch vorstellte, erinnere ich mich gut. Es ist der 7. November 1994. Ilse und Günter aus Oldenburg haben mich auf dieses kommende Ereignis aufmerksam gemacht. Als rüstiger Rentner habe ich Zeit und bin mit den Oldenburgern  in „unser Hurrel“ gefahren. Es ist bald 20 Uhr,  und  man  begrüßt sich allgemein mit „moin, moin“, was mich inzwischen nicht mehr verwundert. Auf der kleinen Bühne stapeln sich wohl über 500 noch in Folie gehüllte druckfrische Exemplare des mit Spannung erwartetes Buches. Mit Spannung? Mich beschleicht Bange - wird das heute etwa ’ne Enttäuschung für den würdigen Herrn Janssen-Holldiek? Der große Saal ist noch so leer. Aber plötzlich strömt es und strömt es von allen Seiten herbei - die meisten haben ja  einen  kurzen Weg.  Janssen-Holldiek war hier mal  Volksschullehrer und fünf Minuten „vor um“ beginnt sogar akute Raumnot. Und ich verstehe kein Wort mehr, das hier gesprochen wird, sichere mir aber vorsorglich fünf Exemplare für meine Lieben daheim. Ein schönes und so „passendes“ Weihnachtsgeschenk!

 

„Unser“ ganz besonderer Heimatforscher: Walter Janssen-Holldiek

 

Wir Hurrelmanns werden tatsächlich besonders herzlich und namentlich begrüßt „als Nachkommen der Familie Hurrelmann, die ihren Ursprung  auf  den  ehemaligen  Hurrelmann-Hof zurückführen können“. Ein Einheimischer begrüßt nun auch „unseren Walter“, der heute sein und unser Buch vorstellen wird. „So, Walter, jetzt kannste loslegen!“ Und dessen Rede beginnt mit „Liebe Hurreler!“ Wie stolz das klingt! „Nu is dat sowit.“ Er habe zusammengetragen, was Menschen seit 566 Jahren in diesem Dorf an Gutem und Bösem erlebt haben. Von 1428 ist uns Kunde von „twe Hus in Hurrel“. Aber bestimmt ist die Siedlung viel älter, es gibt darüber Funde aus der Steinzeit.

Vor Herrn Janssen haben sich schon andere um die Heimatgeschichte bemüht. Deshalb hier eine Zwischenbemerkung über den Huder Pfarrer Conrad Muhle, der 1826 eine Geschichte seines Kirchspiels geschrieben hat. Das eben gelesene Wort „Steinzeit“ gab mir den Anstoß zu diesem Zitat: „Die kleinen

 

Chauken gelten als unsere Stammväter.

 

Diese saßen zwischen der Ems und der Weser und sie werden von Tacitus als das edelste Volk der Deutschen geschildert.“ Hatte ich das Recht, der erstaunten Hurrel-Öffentlichkeit diese Sätze vorenthalten?

 

Nun aber weiter zum Hurrel-Buch. Vor dreißig Jahren sei die junge Generation, sagt der Heimatforscher, sei die Jugend noch (aus verständlichem Grund, wie auch ich meine) auf der Flucht vor der Geschichte gewesen. Aber wir können uns ihr doch nicht entziehen. Wer die Vergangenheit  nicht kennt, wird die  Zukunft nicht in den  Griff bekommen.  In  Hurrel erleben wir Geschichte in unmittelbarer menschlicher und örtlicher Nähe. Von der Steinzeit an, mancher Hügel birgt Funde von großer dorfgeschichtlicher Bedeutung. Man hat Verteidigungs-anlagen entdeckt, die auf kriegerische Zeiten schließen lassen, man kann heute Flurnamen deuten, aber der für Janssen-Holldiek wichtigste Aspekt war doch die Hof- und Familiengeschichte. Hier, gerade hier in Hurrel, lässt sich mehr entdecken als in anderen Dorfgeschichten. Die Suche und schließlich das Finden von historischen Belegen bereitet ungeheure Zufriedenheit! Und Janssen freut sich, erwähnen zu können, daß auch seine einstige Schülerin, Frau Mehrings, mit einem Text in seinem Buch vertreten ist.

 

*

 

Für jemanden, der eventuell auch mal im Sinn hat, ein Buch drucken zu lassen, seien hier beiläufig die Kosten für „unsere“ Dorfchronik verraten, wie sie Herr Janssen-Holldiek seinem erschrockenen Publikum verraten hat: 37.800 DM hat ihn der Spaß gekostet! Dazu kam noch die  Mehrwertsteuer - Summasummarum 40.476 DM. Jetzt, nachdem wir alles mit dem Euro bezahlen, wäre das zwar um die Hälfte billiger, aber ein ganz schöner Pappenstiel, nicht wahr? Sponsoren haben es möglich gemacht, die Auflage von 700 Exemplaren herauszubringen. Denen sollten wir dankbar sein! Vielleicht sind irgendwo doch noch einzelne Stücke des für uns so bedeutenden Werkes liegengeblieben? Für diesen Fall hier die ISBN-Nummer: ISBN 3-98442-217-3. So ein Buch darf doch nicht unverkauft als Ladenhüter bleiben und schließlich als Makulatur enden!

 

*

 

Hier darf ich etwas über Hurrel einfügen, das ich selbst in einer Sagensammlung aus dem Oldenburger Land entdeckt habe: Die Hurrel genannte Handvoll niedersächsischer Bauernhöfe hatte in früherer Zeit eine gewisse entscheidende regionale Bedeutung! Das war, als die Kirche zu Ganderkesee, einer etwas südlicher gelegenen Gemeinde, für ein ganzes Kirchspiel zuständig war. Damals durfte der dortige Küster den Gottesdienst nicht eher beginnen,  als  bis nicht wenigstens ein einziger Bewohner von Hurrel sich auch dazu eingefunden. Ob die Hurrelschen jemals einen Gottesdienst in ihrem Sprengel durch hundertprozentige Abwesenheit  zum Platzen gebracht haben, ist nicht überliefert.  

Doch zunächst wieder zurück auf den Pfad, der mich in dieses spannende und zugleich so lehrreiche Wissensgebiet führte. Mit welch systematischer Taktik die Vorkämpfer der Hurrel-Idee vorgingen, um möglichst viele potentielle Teilnehmer für unser  erstes Treffen in Hurrel aufzuspüren, habe ich schon beschrieben. Detektivarbeit reinen Wassers. Aber auch der Zufall spielte mit. Und davon sei hier auch berichtet. Kurz vor unserem ersten Hurrel-Fest zu Pfingsten 1990 (noch bestand die DDR) mußte ein Oldenburger bei einer Firma in Regensburg eine Warensendung per Telefon reklamieren. Zum Schluß wollte er seinen Namen durchbuchstabieren. Wir haben ja alle so unsere Erfahrungen, was da für Hörfehler möglich sind. „Nicht nötig“, kam die Entgegnung auf bayerisch, „so heißt mein Arzt“. Natürlich ging nach dieser sehr zufälligen Entdeckung unverzüglich auch eine freundliche Einladung

 

von der Hunte an die Donau,

 

unkompliziert befolgt von Dr. Franz H. nebst Gemahlin. Vordem hatten auch sie sich, was den Namen betrifft, recht einmalig gefühlt. Höchstens „beim näherliegenden Schweizerischen Hürlimann glomm  manchmal so eine Ahnung auf...“

Die Regensburger wurden als „unsere Exoten“ begrüßt, Plattdütsche und Bajuwaren verstanden sich prächtig. Weil ich ja vornehmlich durch meine ganz eigenen  Hurrel-Impressionen  zu  diesem Schreiben inspiriert wurde, bleibe ich noch bei diesem süddeutschen Doktor. Wie alle anderen kam auch ich an die Reihe, dem Pfingst-Forum von 1990 im Festsaal von Mehrings Gasthof in Hurrel meine Familie vorzustellen. Ich erzählte von meinem Vater, der als gebürtiger Hannoveraner ein bewundernswert gepflegtes Hochdeutsch ge-ß-prochen habe. Niemals hätte Dietrich Hurrelmann Schornschtein, wie in der Berliner Gegend üblich, über die Lippen gebracht! Nachlässige Sprache, wie sie auch seinen  Söhnen eigen ist, bereitete ihm Pein. Vater erzählte bisweilen von seiner Heimat... Auch vom Dorfe Hurrel wußten wir durch ihn. Daß dort der Anfang unserer Familie gewesen sei. Aber nie haben wir daran gedacht, dorthin mal unsere Füße setzen zu können. Auf den Landkarten, die uns zur Verfügung standen, war der Flecken Hurrel sowieso nicht eingezeichnet. Urkunden, seinerzeit (in den dreißiger Jahren) aus nicht unbedenklichem Grund beschafft und aufbewahrt, über Werden und Vergehen unserer väterlichen Vorfahren weisen Sachsenhagen, Abbehausen, Ellwürden und Hannover als Geburts- und Wohnorte aus. Bis auf eine Ausnahme: Mein Großvater Theodorus Sebastianus Hurrelmann erblickte 1869 zu Graz in der Steiermark das Licht der Welt... Wie das? Nun, mein Urgroßvater, der Riemer und Täschner Bernhard Karl Heinrich Wilhelm H., war einst als wandernder Handwerksbursche bis nach Österreich gelangt. Dort freite er eine Maria Theresia Kubath. Ihren Sohn, meinen Großvater, ließen sie landesüblich nach römisch-katholischem Ritus taufen. Sie müssen  angesehene Leute gewesen sein, die Greizer Hurrelmanns - schließlich war der Pate Sebastian Bernatz von Berufs wegen Juwelier. Irgendwann zog es Sohn Theodorus  aber wieder ins Niedersächsische zurück. In Hannover gründete er eine Familie, der drei Kinder entstammen - Theodor, Ida und schließlich Dietrich, mein Vater. Ich habe diesen meinen Großvater nie kennengelernt, obwohl er bis lange nach 1945, gar nicht so weit von Berlin entfernt, in Lübben, gelebt haben soll. Er muß ein allzu strenger, vielleicht bitterer Mann gewesen sein, der seine drei Kinder schon im Jugendalter aus dem Hause getrieben hat. Mein Vater entwich vor ihm sogar bis nach Berlin. Von ihm leitet sich die „Berliner Linie“ Hurrelmann her.

Ich habe zu Pfingsten 1990 die Gelegenheit des Auftrittes in Hurrel vor meinem neu entdeckten und hier versammelten Clan auch benutzt, ein ganz klein wenig darüber zu erzählen, wie wir (nannte man uns damals schon „Ossis“?) so geworden sind, wie wir sind. Ich glaube, in diesem Kreis hat mir das damals keiner übel genommen. Wie und warum mein Vater in der Weimarer Republik, fast ein Kind noch, Gewerkschafter geworden war, bald auch Sozialdemokrat. Wie er den Machtantritt der Nazis nicht widerstandslos über sich ergehen ließ, doch kurz vor  Toresschluß noch Soldat werden musste, dann von der  Sowjetarmee auf Grund seines erbärmlichen Gesundheitszustandes aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, (ich weiß, daß andere sehr andere Geschichten über diese Zeit zu erzählen haben!) Wie mein Vater dann mithalf, in Berlin die von den Nazis verbotenen freien Gewerkschaften wieder zu beleben, zusammen mit Christen wie Jakob Kaiser und Ernst Lemmer. Auch diese waren, wenigstens in der ersten Nachkriegszeit, der Ansicht, daß die Uneinigkeit der Arbeiterschaft Hitler an die Macht hatte gelangen lassen. Deshalb setzte sich mein Vater, wir wohnten damals im amerikanischen Sektor von Berlin, mit aller Kraft für die Einheit von SPD und KPD ein. Von „Zwangsvereinigung“ konnte bei uns in Neukölln nicht die Rede sein. Aber der Wind der Zeit trieb uns bald nach Gründung der DDR auf die andere Seite. Und ich sagte den versammelten Hurrel-Leuten, im freimütigen Gespräch miteinander könnten wir uns gern darüber unterhalten, weshalb wir - meine Eltern und später ihre beiden Söhne - auch dort, trotz aller Widrigkeiten, nicht die Hoffnung auf eine zukünftige Welt der Gleichen, Freien und Gerechten verloren haben. Wir blieben und gehörten zu denen, die versuchten, was letzten Endes so nicht gelingen konnte und nicht gelungen ist.  Mein schönster Satz,  damals im Hurreler  Dorfgasthof noch als  DDR-Bürger ge-sprochen: „Wir fahren wieder nach Hause. Doch unsere Heimat ist größer geworden.“ Mehr Worte werde ich in diesem  Text wohl nicht über meine eige-ne kleine Familie unterbringen. Aber dieses lag mir am Herzen, auch im Sinne meiner Eltern, die das alles nicht mehr miterleben konnten.

Während meiner kleinen Ansprache wird aus dem wie alle anderen mit höflicher Aufmerksamkeit lauschenden Regensburger Arzt ein äußerst gespannter Zuhörer. Anschließend kommt er zu mir, legt mir Schriftstücke vor. Wir begreifen innerhalb weniger Augenblicke, daß mein Hannöverscher Großvater einen Bruder gehabt hat - den Großvater des Arztes!

 

Ein weiterer Ast

 

verwächst dokumentarisch mit dem großen Stammbaum „derer aus Hurrel“, und zwei Großcousins haben einander gefunden. Doch das Komplettieren dieser komplizierten graphischen Schemata ist nicht das eigentlich Interessante an der Genealogie.

 

*

 

Alle, die es mit uns erlebt haben, werden nie vergessen, wie wir uns erstmalig dem Tagungsort näherten. Wir „Ossis“ hatten Quartier gefunden bei Günter und Peter in Oldenburg,  andere „Fremdlinge“, die Bielefelder und Regensburger, hatten sich Hotelunterkunft gesucht. So zu logieren kam für uns Ostberliner damals gar nicht in Frage: Noch  war die Währungsunion nicht vollzogen, wir waren also völlig Westgeld-klamm.

Mit unseren freundlichen Quartiereltern fuhren wir im Konvoi frühmorgens am Pfingstsonntag gen Hurrel los. Der ortskundige Peter als Lotse vorweg... Die Landstraße von Oldenburg nach Delmenhorst ist leer an diesem trüben Morgen. So kommt unsere kleine Kolonne von vier PKW gut voran. Sie hatte sich sozusagen aus der Bewegung heraus formiert, weil alle das gleiche Ziel haben. Plötzlich lenkt das „Führungsfahrzeug“ mit blinkenden Warnlichtern rechts an den Straßenrand. Was ist geschehen? Panne? Verfranzt? Siebzehn Leute klettern aus den Autos. Die meisten begegnen hier einander zum ersten Mal. Das gegenseitige Bekanntmachen fällt leicht: Alle tragen den gleichen Familiennamen.  Die Ortseingangstafel  von  Hurrel ist Anlaß für den spontanen Stop. Schnell wird ein lustiges Gruppenfoto neben dem grüngelben Schild arrangiert. Ziel der Übung: Familienfotos mit ungewöhnlich viel Leuten darauf. Aber bald kommt's ja noch dicker...

Wir setzen die Fahrt fort: Das Ziel ist, wie erwähnt, der Landgasthof von Mehrings in Hurrel. Um 10.35 Uhr sind wir dort unserer vierunddreißig. Zu Beginn wird die neueste Stammtafel verteilt - und das zerschlägt zunächst einmal jegliche Tagesordnung.  Babylonisches Stimmgewirr  erfüllt  den  Raum  -  jeder  wühlt,  sucht  sich,  findet sich, ruft anderen irgendetwas sicher Erstaunliches zu. Momente voller Herzlichkeit, Freude über neugefundene Verwandtschaft, vor allem - und das geht mir besonders nahe - über

 

viel geistige Identität.

 

Spontaner Stop: Das erste Großfamilienbild

 

Die Ältesten erzählen vom Leben in den Marschdörfern, von alten Bräuchen  bei Geburt, Heirat und Tod, vom Torfstechen und von seefahrenden Vorfahren, vom Deichbau und fast vergessenen Kochrezepten. Urkunden werden besehen, verglichen, fotokopiert, Adressen getauscht.

Nachdem auf dieser nicht alltäglichen Versammlung allerlei Reden gehalten wurden, die merkwürdigerweise jeden im Saal interessierten (halt mal, warum sollte denn hier Uninteressantes geschwätzt worden sein?), wird das Dorf Hurrel durchstreift, „unser“ Stammhof (die Gebäude, die jetzt dort stehen) besichtigt. Später werde ich beim Durcharbeiten der Hurreler Dorfchronik herauslesen, daß dieses Anwesen in der Straße „Zum Feld 2“ noch heute von den Altansässigen „Hurrelmanns Haus“ genannt wird, 1428 erstmals erwähnt im Oldenburger „Salbuch“, einer Art mittelalterlicher Katasterbuch: „Item twe Hus tom Hurle“ (sowie zwei Hofstellen bei Hurle). Das „Salbuch“ hatten die Oldenburger Grafen anlegen lassen, um ihre Besitztümer zu dokumentieren. Die „uns“ betreffende Eintragung trägt übrigens die Nummer 851.

Das genau ist der Ort, wo sich unser Name vor Jahrhunderten formte - beginnend eben mit einem Hus tom Hurle, es folgt Johann Barkhus von Hurle (1489), dann dessen Sohn Johann van Hurle (1507), Dyrk van Hurle (1508), Henrich upn Hurle (1509), Johann Hurleman (1534), Dierck Hurlemann (1535), Henrich up de Hurrel (1607), Henrich Hurrelmann (1630). So dokumentiert es die Hurreler Dorfchronik. Janssen-Holldiek beweist in  seiner  tiefschürfenden  Arbeit,  daß  dies  der  älteste  Hof des  Dorfes ist. Aus unserer Stammfolge lese ich heraus: Hurlmann, Hurlemann, Hurlman, ab 1637 erstmals Hurrelmann, aber noch folgt in vielen Kirchenbucheintragungen Hurleman. Ich kann lange darüber sinnen, wie irgendwelche längst verstummten Zungen  so an unserem Familiennamen herumschliffen, bis er seine heutige Form bekommen hat... Das war echter Volksmund, das war Leben. Nicht so wie heute, wo uns gewinnorientierte Mediengewalt zwingt,  wenn  wir  als  „up  to  date“  gelten  wollen,  künftig  nur  noch  Kids  zu  sagen oder relaxen oder Outfit oder event. (Wir Hurrel-Leute machen übrigens unsere „events“ alleine!)

 

Das gibt’s tatsächlich: „Hurrelmanns Haus“

 

Bei einem Abstecher nach Jade erlebt der dortige Pfarrer kurz vor seinem Gottesdienst unseren unerwarteten Ansturm auf seine mittelalterliche Kirche. Hier wurden viele Hurrelmanns getauft, getraut, hier wurde ihnen die Totenmesse gelesen. Auf dem Altarbild zeigt man unter den Stifterfiguren  „einen von uns“.  Wenn auch nicht für  „einen von uns“ in  Stein gehauen,  so  beein-druckte mich doch auf dem Friedhof von Jade die um 1675 gefertigte Stele mit einem zur Hälfte als lebenden, zur anderen als Totengerippe dargestellten Menschen ganz besonders nachhaltig. Ein  nachdenklich  stimmendes bildliches Gleichnis für die Vergänglichkeit von uns Menschen!

Dieser „Lebetot“, so wird dieses steinerne Sinnbild genannt, ist weit über seine Umgegend hinaus bekannt. Eine drastische Darstellung im Stil der Barockzeit. Zu seinen Füßen, im steinernen Sockel, sind mit einiger Mühe folgende Worte zu lesen: „Tröst dich mit dem Auferstehen“.

 

*

 

An den Jadebusen, wo sich im Mittelalter das Dorf Bollenhagen befand,  sind wir auch gefahren. Weil dorthin um 1515(?) unser „Stammvater“ auswanderte, ein gewisser Jürgen, wahrscheinlich vor dem Wüten der Pest aus Hurrel flüchtend, oder weil er als Zweitgeborener nicht den Hof des Vaters erben würde. Nunmehr am Küstenfluß Jade siedelnd, gibt es für seinen Familiennamen  keine  Alternative, er heißt fortan  Hurrelmann, „der  Mann aus  Hurrel“. Jedes gediegene deutsche Namenslexikon interpretiert ihn so. Heute deckt ein sanfter Hügel auf einer Marschwiese die Stelle, wo sein Haus gestanden haben soll. Der Jadebusen bekam übrigens seine heutige Form erst in geschichtlicher Zeit, anlässlich der großen Sturmflut von 1511, die als „Antoniflut“ in die Landesgeschichte einging. Nach einer schweren Flut im Jahre 1509 waren die Jadedeiche nur sehr nachlässig repariert worden, deshalb waren die schweren Antoni-Überflutungen eigentlich vorprogrammiert.

Auch an anderer Stelle greife ich auf den Huder Pastor Conrad Muhle zurück. Hier seine Beschreibung des schrecklichen Geschehens von 1511, die uns Heutigen übrigens ein weniges beruhigen könnte,  denn schlimme Wetterkapriolen gab es, wie hier nachzulesen, schon damals: „Auch von der Mitte des Octobers an eine strenge Kälte einfiel, und dieselbe bis 1511 Januar 8 anhielt: So erhob sich am 16. und 17. Januar ein furchtbarer Sturm, welcher das dicke Eis ablösete, es heftig und schnell in grossen Blöcken an die Deiche warf, wodurch diese bald gänzlich zerfetzt wurden, und das Land sich mit hohen schrecklich brausenden Fluthen und treibenden Eisklumpen bedeckte. An die Rettung der Habseligkeiten  war  bei  diesem  Tumulte  nicht  zu  denken,  indem sich urplötzlich eine grosse Anzahl der Häuser dahinstürzte, fast alles Vieh ertrank, an 800 Menschen in Butjadinger Lande, Schwey und Mooriem ihr Leben verloren und ganze Dorfschaften dahinschwanden. So wurde jetzt der noch übrige Theil des Jadelandes ein Raub der Wellen.“ Pastor Muhles Gänsekiel kratzte öfters übers Schreibpapier, um unseren Namen festzuschreiben. So lesen wir auch an anderer Stelle: „Die beiden halben Bauern (in Hurrel) No. 13 (=Röpken Haus) und 12 (=Wübbenhorst) machten ursprünglich eine volle Bau aus, die unter zwey Söhnen getheilt wurde. No. 12 ist das Stammhaus: Harm (richtiger Hinrich) Hurrelmann, der letzte Besitzer in der schon getheilten Bau des alten Stammes No. 12 hinterließ einen Sohn und eine Witwe, welche Johann Wübbenhorst heurathete. Da aber der Sohn wegen Misshandlungen seiner Mutter aus dem Lande entwichen musste, und verschollen war: so kam die Stäte an Wübbenhorst Familie.“ An anderer Stelle erwähnt Muhle, daß der in Hurrel 1668 einheiratende Johann Wübbenhorst aus der Brinksitzerei Wübbenhorst in Vielstedt stammt.

Anderen Quellen ist zu entnehmen (und ich betone hier wieder, daß ich nicht der Entnehmende, sondern lediglich der Übernehmende bin!), was überhaupt erst den Umzug und die Übersiedlung  Jürgen  Hurrelmanns  möglich gemacht hat:  1514 war es dem  Oldenburger Grafen Johan V. gelungen, nach jahrelangen Kämpfen die Stadtländer Friesen aus ihrer über Jahrhunderte angestammten Heimat, dem Gebiet des Jadebusens, zu vertreiben. Zur Sicherung des eroberten Territoriums wurde 1515 östlich von Jade die Zwingburg Ovelgönne erbaut. Aus dieser gewaltsam erfolgten Veränderung gräflicher Besitzverhältnisse erwuchs wohl die Chance für unseren Jürgen. Obwohl das Leben in der Nähe des unberechenbaren Meeres sehr viele unwägbare Gefahren barg, ließ er sich in der Hoffnung auf einen verbesserten Deichbau hier, südlich des Jadebusens - früher auch Friesische Balge genannt -, nieder. Das Land, welches Johan V. unserem Jürgen zuwies,  war zur Hälfte fruchtbarer Ackerboden, zur anderen Hälfte Moorland.  Eine  Bal-ge, damit auch diese mir zunächst unbekannte Vokabel hier mal erklärt wird, ist ein Fahrwasser, genauer auch ein Wasserlauf im Wattenmeer. Es könnte aber auch ein Abzugsgraben sein, ganz sicher aber haben wir in diesem Fall darunter eine kleine Bucht zu verstehen, nach dem niederdeutschen Wort „balje“.

 

Landkarte von 1664: Butjadingen und Bollenhagen 

Die (vom Grafen gewaltsam angeeigneten) Flurstücke wurden durch Losentscheid vergeben. Erstaunlich, und das macht für mich den Reiz der Genealogie aus, was alles über diesen Jürgen bekannt wird. Sein Landstück sei dreizehneinhalb Jück groß gewesen (Jück: ein oldenburgisches Feldmaß, dem Joch entsprechend). Er hat es als eine Art Erbpacht vom Grafen Johann V. von Oldenburg erhalten. Das Flurstück Nr. 12 von Bollenhagen - es maß ungefähr 130 mal 500 Meter - gehörte 1581 einem Hurlmann, 1599 einem Hurlemann und nach 1661 Hurrelmanns. Das Land besteht zur Hälfte aus Moor, zur anderen aus fruchtbarem Marschboden. Dafür mußte Jürgen allerlei Dienste leisten und Abgaben zahlen, vor allem für den Deichbau. Geld war knapp, so regelten die Verträge fast alle Zahlungen durch Naturalien und Arbeit. Verheerende Sturmfluten formten seinerzeit den Jadebusen und bedrohten auch Jürgens Felder. Unter Graf Johann V. wurden die Deiche an der Jade wesentlich verbessert. Jeder „Meier“, so wurden die Erbpächter auch genannt, hatte für diese Arbeiten einen Wagen und zwei Mann abzustellen. Deicharbeiten aber, das begriff ein jeder, waren notwendig zum Erhalt der Ländereien.  Peter  Hurrelmann, bei dem ich das meiste  hier zu  Lesende abgeschrieben habe, hat errechnet, daß Jürgen etwa 35 Prozent seiner landwirtschaftlichen Erträge für den eigenen Bedarf geblieben sind.

Die Deichordnung der Vogtei Jade, 1531 festgeschrieben, regelte alle Rechte und Pflichten bei Bau und Wartung dieser Schutzanlagen. Für Unterlassungen und Nachlässigkeiten mußte mit Bier bezahlt werden. Erbpacht, das bedeutete, daß der älteste Sohn nach dem Tod des Vaters das Land übernahm, selbstverständlich war dann dafür eine Art Erbschaftssteuer zu entrichten...

 

*

 

Über „Meer und Mensch am Jadebusen“ hat ein gewisser Christian Künnemann ein sehr detailreiches Buch geschrieben. Unter Punkt 17. „Wie die Meier auf Herrenland die Pacht bezahlten“ fand ich: „Das eingedeichte Land gehörte nicht den Bauern, welche am Lockfleth die Durchschläge  bauten,  sondern  es  wurde  Eigentum  des  Grafen,  ... war  Herrenland. Aber der Graf konnte soviel Herrenland unmöglich selbst bewirtschaften, und deshalb hatte er sämtliche Bauen verpachtet. Die Pächter waren

 

Meier auf Herrenland.

 

Ihre Stellung war die eines Erbpächters... Den Nachfolger unter den Söhnen aber wählte sich der Graf selbst aus, und der mußte für die Bevorzugung ... den Weinkauf bezahlen. Das war eine einmalige  Abgabe. Sie betrug zwei  Taler pro  Jück.... und wenn das Geld nicht vorhanden war, so musste bei den niedrigen Viehpreisen der damaligen Zeit so manche Kuh aus dem Stall, bis die Summe zusammen war. Geld war damals noch knapper als heute, ... nur einen kleinen Teil der Pacht bezahlten die Meier in barem Gelde. Den größten Teil beglichen sie in Naturalien und Arbeit. Und Arbeit hatte der Graf genug, denn er deichte damals an der Jade und am Lockfleth...

Unter den späteren Grafen, namentlich unter Anton I., wurden auch die freien Bauern zum Deichbau herangezogen, die dem Grafen nichts schuldeten und für ihre Arbeit auch nicht bezahlt bekamen. Für diese Bauern war die Arbeit Frondienst. Sie hat viel böses Blut  erweckt, und die  Nachwelt hat es dem  Grafen nicht vergessen.“  So  geht das noch seitenlang weiter. Gräfliche Vorrechte, begründet durch „höhere Geburt“, festgeschrieben durch selbstgemachte Gesetze. Und es ist keine rote Agitationsschrift, sondern ein Buch aus den dreißiger Jahren. Und ich lese dergleichen Authentisches mit besonderen Gedanken, denn  „Alteigentümer“, Nachkommen solcher  Grafen, verursachen mit ihren  Rückgabeforderungen gegenüber kleinen Siedlern und  „Datschenbesitzern“ in der ehemaligen DDR viel Kummer, weil uns dieses althergebrachte „Recht“ eigentlich als Unrecht erscheint.

Noch viel mehr, und darin besteht eben  das Abenteuer Ahnenforschung für mich, wurde aus alten Urkunden über diesen Jürgen bekannt. Man weiß, daß ihm anno 1520 ein Sohn geboren, der auf den Namen Hinrich getauft ward. Der, als späterer Hofinhaber von Bollenhagen 12, besaß für den Kriegsfall „volle Rüstung“. Darüber gibt das Mannzahlregister der Vogthey Jade von 1581, eine Art Wehrerfassungsliste, lakonische Auskunft. Hinrichs Sohn Dirk, der 1543 das Licht  der  Welt erblickte,  konnte seiner  Kriegsherrschaft im  Ernstfall  keine besondere  Stütze sein, denn er verfügte über derlei Wehr und Waffen nicht, jedenfalls ist das Gegenteil nicht aktenkundig  überliefert.  Aus  dem  Musterungsprotokoll  des  Jahres 1619: „Hinrich Hurlmann somit dessen Sohn Eilerd und Knecht Johannes Hurlmann von der Jade: 1 Röhre, 1 Degen.“ Es bewegt mich immer wieder, wenn ich, zwar nur in der Fotokopie, solche uralten Schriften zu entziffern versuche und ich unter all den oft in kalligraphischer Schönheit aufgelisteten Eintragungen  unseren Namen   herausbuchstabieren kann.

 

Hurrelmanns haben Aktien daran: Deichbau am Jadebusen

 

Auch ein von 1660 bis 1672 geführtes „Rottbuch“ enthält unter der Zwischenüberschrift „Das 24. Rott“ eine winzige Erwähnung unseres Namens: „Johan Schnitker junior, Fuhrmann, ½ Haus;  (nachgetragen:)  Otten  (Schnitkers)  Sohn;  (nachgetragen und gestrichen:) steht zu; jetzt Eyllert Hurrelmann.“ Was denn ein „Rottbuch“ sei, darüber gibt auch mein sehr genaues und ausführliches altes Lexikon von 1896 leider keine Auskunft. Zu vermuten, daß es sich beim Begriff „Rotte“ um eine frühere militärische Antrete-Ordnung handelt, ein „Rottmeister“ schließlich war in Landsknechtsheeren der Führer einer Rotte. Laut „Verzeichnis der vier Jader Corporalschaften so beien neuen Siel Wache halten“ (vermutlich gegen schwedische Schiffe) stand 1643 als Nr. 3 Eilert Hurlemann, Hausmann in Bollenhagen, in der 3. Corporalschaft.

Solch ein Oldenburger Graf, bei allen Verdiensten für das Vorantreiben der Deichbauten, die wir ihm wahrscheinlich zubilligen müssen, verstand es durchaus, gut - auf Kosten anderer - zu leben. Für die sichere Lagerung der Getreideernte - in der kalten Jahreszeit gab es in der straßenlosen Gegend keine Transportmöglichkeiten - waren die gräflichen Packhäuser vorgesehen. Die waren vorsorglich in den sogenannten Vorwerken errichtet worden, eins davon in Sichtweite von Jürgen Hurrelmanns Hof. Alle notwendigen Arbeiten  -  Lagerwirtschaft und Transport  -  ließ der Graf von seinen Pächtern, den Meiern, erledigen. Pflügen, Eggen, Mähen, Einfahren und Dreschen gehörten zum Pflichtenkatalog seiner Untertanen. Da musste die gesamte Familie ran, all das konnte Jürgen allein nicht schaffen. Zumal nicht selten Missernten die Folge extremer Witterungsbedingungen waren und dann Schmalhans Küchenmeister war. So beschrieb vorerwähnter Pastor Muhle das Jahr 1516: „Heißer Sommer, alles verbrannte auf den Feldern, Teuerung.“

Die Jagd war Privileg des Grafen. Die Meier hatten die Treiber zu stellen, je nach Größe des Hofes zwei bis drei Mann. Ebenfalls hatten die Höfe Schlachtvieh für die Hofküche zu liefern. Nicht immer ging es anno dazumal nur todernst zu. So fand 1531 eine Art Einwohnerversammlung des Kirchspiels Jade statt, auf der der älteste bekannte Deichbrief (Deichordnung) bekanntgegeben wurde. Bei dieser Gelegenheit „wurde 

eine Tonne Bier vertrunken“.

Die Erhaltung der Deichanlagen wird zur Gemeinschaftsaufgabe erklärt. So liest sich das im Originaltext: „Dick breff by der Jade. Im Jahre 1531 als Haye Hollinch, Warner und Herman   steineken   dickschwaren   gewesen   sint,  do  hefft  das  carspel  binnen  dickes gedruncken 1 tunne brockebier, so hebben de carspenslude under andern begehrt, dat se eine ordenung wolden hebben...“ Mehr kann ich meinem auf die moderne Rechtschreibung fixierten Computer nicht zumuten, er krakeelt fast bei jedem Wort. Ach, eine Zwischenüberschrift hat mir doch sehr gefallen: „Articuli und unterscheidt der dinge, de man dohn und lahten schall.“

Das Thema Deich und Deichbau erinnerte mich an meine Schulzeit. Die allseits sicher wohlbekannte Novelle vom „Schimmelreiter“ von Theodor Storm war uns Schülern, wie manches andere klassische Lesestück, durch penetrantes Interpretationsverlangen der Lehrer gründlich verleidet worden. Das Buch wäre wohl mein ganzes späteres Leben lang ungelesen geblieben und im  Bücherregal  immer  weiter nach hinten geschoben worden. Die Novelle aber hat nun, durch die Beschäftigung mit den Lebensumständen meiner Vorfahren, geradezu private, familiäre Relevanz für mich erlangt! Denn es kam Kunde auf uns über einen Deichbeamten namens Hurrelmann, nicht allein aus alten Kirchenbüchern, sondern leider auch aus uralten Gerichtsakten. Es gab nämlich - urkundlich belegt - dazumalen einiges zu verhandeln darüber, wie jener („unser“) Deichvogt seine Pflichten erfüllte. Nein, benennen wir es doch aufrichtig: Wie er sie schlichtweg vernachlässigte. Damit kam er vor Gericht. Und was der Gerichtsschreiber protokollierte, wurde in unserer Zeit Quelle für die Familienforschung!

 

*

 

Etwas ganz Besonderes, aber nicht nur für unsereins, ist wohl auch die „Instriction für den neuen Schlossknecht“, gegeben zu Varel am 23. Juli 1794. Da weht der Atem der Geschichte ganz privat! Denn selbiger Schlossknecht trug den Namen Joh. Hinr. Hurrelmann! Die dreizehn Punkte dieser Arbeitsordnung sind kulturhistorisch so interessant, daß ich sie hier vollständig wiedergeben möchte. Wohlan!

 

  1. Soll er sich eines nüchternen und mäßigen Lebens befleißigen, seiner Herrschaft Treu und den ihm Vorgesetztengehorsam seyn.
  2. Soll er zur Nacht um die andere in der Burgstube Wache halten und alle Stunde zur Nachtzeit patrouillieren und auf den 3 Schloßplätzen rufen, damit keine Einbrüche und Diebstähle vorgehen mögen, auch Acht haben, damit keine Unglücks=Fälle durch Feuer und Licht in und an den herrschaftlichen Gebäuden entstehen. 
  3. Die auf dem Schloße erforderliche Feuerung an Torf und Holz hat er aus der Torfscheune und der Holzremise dahin zu schaffen und an dem Orte, wo es gebraucht wird, zu vertheilen.
  4. Soll er überhaupt alles auf dem Schloße und im Stall vorkommende und sonsten zu herrschaftlichen Diensten ihm etwa aufgebende Verrichtungen getreulich wahrnehmen und ohne Widerrede verrichten, die Tage besonders, wenn er auf dem Schloße die Wache nicht hat, oder dorten seine Diensten nicht verlangt werden, sich im Stall nach Anweisung des Verwalters bey Wartung der Pferde beschäftigen.
  5. Die Thore hat er, wenn er die Nachtwache hat, alle Abend nach Anweisung des Vogtes zu verschließen und morgens zu öffnen und zu iquilieren, daß keine unbekannte, verdächtige Fremde, Landstreicher oder dergleichen sich auf dem Schlossplatze, vielweniger auf dem Schloße aufhalten; wie auch in der Burgstube keine dergleichen zu dulden.
  6. Zu vorkommenden besonderen Fällen und falls Unordnungen entstehen sollten, hat er davon gleich dem Vogt oder der Cammer Anzeige zu thun, und zu deren Abwehrung alle mögliche Hilfe zu leisten, sie bestehe worin sie wolle und in solchen besonderen Fällen der Ordre der Kammer Folge zu leisten.
  7. Auf die beym herrschaftlichen Hause befindliche Pumpen und Nothtonne hat er mit Acht zu haben, da Erstere beständig gangbar und Letztere immer mit Wasser angefüllt zu stehen, und jedem Mangel daran sofort dem Vogt oder dem Zimmermeister Raablink anzuzeigen und Reparation zu befördern.
  8. Die Transportierung der Meublen auf dem Schloße und wo sonsten seiner Hülfe von denen, die die Aufsicht auf dem Schloße haben, daselbsten verlangt wird, hat er sich willig finden zu lassen.
  9. Mit Feuer und Licht in der Burgstube hat er rathsam, vorsichtig und ordentlich um zu gehen.
  10. Wenn er die Nachtwache nicht hat, schläft er regulair in der Stube ueber der Burgstube, doch muß er sich sein Bette selbst schaffen.
  11. Es bleibt ihm frey, als Todten Gräber die Gräber anzuweisen und wird solange von der Schloß=Arbeit dispensiert; doch muß er solches vorher dem Vogt anzeigen und darf er sonsten, ohne dessen Wißen, nicht vom Schloß sich entfernen, damit er erfordernden Falls allemal sicher zu finden ist.
  12. Bey diesem allen bleibt Ihm als der Cammer, vielmehr gnädigster Herrschaft eine halbjährige Kostkündigung reservieret.
  13. Für diese seine Dienste werden ihm Siebentzig Reichstaler in Gold alljährlich und zwar Quartal Weise aus der Kammer ausbezahlet.“

 

Ich vermute, für die hier von mir übertragene Schreibweise dieser „Instriction“ sind im Laufe der Jahre und anlässlich mehrerer Abschriften schon viele Eigenheiten der ursprünglichen Orthographie geglättet worden. Irgendwann möchte ich mal ins Vareler Schloß kommen oder wo sonst die Urkunde aufbewahrt werden mag, um den genauen Text mir selbst vor Augen führen zu können.

Vieles von dem, was bisher zu lesen war, habe ich 1990 in einem Artikel für die Ostberliner Zeitschrift „Freie Welt“ verarbeitet. Happy, wie ich nach der Heimkehr vom ersten Hurrel-Treffen war, fand ich die Überschrift

 

„Hipp, hipp, Hurrel“

 

dafür! Und es bewegt mich heute noch, wenn ehemalige Kollegen oder auch Leser, zwölf Jahre danach, mich gerade auf diesen Artikel hin ansprechen. Sie haben ihn in Erinnerung behalten, denn solches war ja geistiges Neuland für uns in der DDR gewesen. So leben wir denn, ohne es zu wollen, auch in der Erinnerung wildfremder Menschen auf irgendeine Weise fort. Ist das nicht sonderbar? Natürlich habe ich in meinem Artikel Fehler, genauer Unrichtigkeiten, nicht vermeiden können. Prompt kam von Günter aus Oldenburg eine berechtigte Replik: „Der Artikel ist in der Nachbarschaft auch mit großem Interesse gelesen worden. ‚Was sind die Hurrelmänner doch für berühmte Leute!’ Sogar zu Friesen sind wir gemacht worden. Gottseidank nicht zu ‚Ostfriesen’. So kann man über uns keine Witze erzählen. Die Bezeichnung ‚Friesen’ müsste man doch mal klären, wenn wir mal wieder zusammenkommen.“

Ich nahm zu diesen berechtigten Anwürfen selbstkritisch Stellung: „Der Zeitungsbeitrag wollte keine wissenschaftliche Veröffentlichung sein, sondern vielmehr den Lesern hier etwas Unterhaltendes bieten, die so was bisher noch nicht kannten. Da habe ich mir erlaubt, einiges zu steigern. Unter anderem wollte ich auch die Gegend, und die Menschen, die dort wohnen, plastischer machen. Und das schien mir durch die Verwendung des Begriffes ‚Friesen’ gegeben. Beinahe wären es wirklich sogar ‚Ostfriesen’ geworden!“

Kann Genealogie, oder genauer, das Wissen über ihre Erkenntnisse, auch einen praktischen Nutzen haben? Ich bejahe das. Und zwar als bekennender „Ossi“. Es war, als das „fürsorgliche“ Hamburger Verlagsunternehmen Gruner + Jahr den Berliner Verlag, bei dem  die  eben zitierte  Illustrierte  Zeitschrift zu  DDR-Zeiten erschien, übernommen und die „Freie Welt“ zielstrebig (trotz bescheinigter deutlich gewachsener journalistischer Qualität) zielstrebig an die Wand gefahren hatte. Mir blieb, nach geraumer Zeit  mit „Kurzarbeit null“ (was wir aber auch alles lernen durften von unseren westlichen Wohltätern!), nichts übrig, als mich beim zuständigen Arbeitsamt als arbeitslos zu melden. Ein bitterer Tag für einen, der inzwischen schon begriffen hatte, daß er als Mittfünfziger kaum noch eine Chance auf dem „Arbeitsmarkt“ bekommen wird. So buchstabierte ich denn dem „Vermittler“ (ich ging damals zu Vor-Jagoda-Zeiten völlig unbefangen davon aus, daß der eine ehrliche Haut sei), kleinlaut meinen Namen. Und durfte wahrnehmen, daß mein Gegenüber plötzlich sehr aufmerksam geworden war. Seine Rede: „Sind Sie etwa...? Nein, der können Sie doch nicht sein. Aber kennen Sie vielleicht...?“ Also, der Arbeitsamtsbeamte outete sich als einer, der neu in diesem Metier war und vorher, in der DDR, als Soziologe beruflich mit ... Jugendforschung zu tun gehabt hatte. Wie mein Bielefelder Namensvetter.  Nun  sprudelte  alles  aus  mir  heraus, was ich über „unseren“ Professor wusste, dessen persönliche Bekanntschaft ich ja inzwischen gemacht hatte und noch viel mehr. Eigentlich alles über Hurrel, jedenfalls soviel, wie mir in diesen lebensentscheidenden Momenten so einfiel. Ein Lächeln glitt auf das Gesicht meines menschlichen Gegenpols in diesem zuerst so kalt auf mich wirkenden Bürozimmer. Und er griff in ein Fach seines Schreibtisches und sprach dabei diese Worte: „Da habe ich doch was für Sie!“ Eine ABM-Stelle zwar, aber eine sehr interessante wissenschaftliche Arbeit, bei der ich noch eine Weile, bis zur Rente, mein berufliches Können aus meinen Aufenthalten im fernen Kasachstan einbringen konnte. Eine Tätigkeit, das sei auch nicht verschwiegen, die mir dank recht ordentlicher Bezahlung noch etliche Pluspunkte für die spätere  Berechnung meiner  Rente einbrachte! Was wäre gewesen, wenn ich als meinen Namen Meyer-Motzen oder Schultze-Oldenburg hätte buchstabieren müssen? Oder wenn ich gar ein „von und zu“  gewesen wäre? Nicht auszudenken!

Der Name „Hurrelmann“ hat ja wirklich etwas Eigenes. Man braucht nur so zu heißen und sich mit diesem  Namen  irgendwo  vorzustellen ...  und gleich erregt man  Aufmerk-samkeit. Meistens, weil wir beim Vorstellen nicht genau verstanden und deshalb um nochmaliges Buchstabieren gebeten werden. Einmal reicht in den wenigsten Fällen.

 

Verballhornungen sind nicht selten...

 

Oft mündet das Gespräch mit einem neuen Bekannten  in die Frage: „Was ist denn das für ein komischer Name?“ Aber dann können wir loslegen! Was kann, beispielsweise, ein Herr Koslowski oder eine Frau Tütenbrink schon in dieser Angelegenheit Besonderes von sich erzählen? Wir aber, wir können! Apropos Oldenburg. Eine wunderschöne Stadt. Mit einem wunderschönen Zentrum, dessen zum Teil gut erhaltene historische Gebäude die Gedanken des Spaziergängers ganz von selbst in alte Zeiten lenken. Das mag beim Degode-Haus von 1502 mit seinem „vierfach vorgekragten“ (was immer das bedeuten mag) Fachwerkgiebel so sein, sicher auch beim Graf-Anton-Günther-Haus von 1682, und ganz bestimmt bei der „Hofapotheke“ von 1677, deren Bausubstanz gilt  als besonders stilecht erhalten. Ein ebenso schlichter wie zeitlos schöner Backziegelbau, der offenbar unmittelbar nach dem verheerenden Stadtbrand von 1676 errichtet worden ist. Das besterhaltene Oldenburger Bürgerhaus des 17. Jahrhunderts, wird gesagt. Wir „Hurrelfrauen und -männer“ aber sollten auch das wissen: Da hat es einst die Elsebeth Hurlemann gegeben, das Kräuterweib von ebendieser der Hofapotheke. Am 4. März 1681 richtete dieselbe eine Bittschrift an den Grafen Egon Günther und eine seiner Töchter, in der sie darum bat, daß die hohen Herrschaften eine Patenschaft über ihre Tochter übernähmen, die in der Ehe mit dem Soldaten Carsten  Brandt geboren ward.  Das  brachte der  Familie jeweils einen  blanken  Reichstaler als Patengeschenk  ein.  Wenn  man  bedenkt,  daß  Elsebeth  im ganzen  Jahr für das Sammeln und kunstgerechte Trocknen von Heilkräutern die Summe von drei Reichstalern verdiente, ein nicht zu verachtender Zuschuß!

 

Stilecht erhalten: Elsebeths Arbeitsstätte

 

Der Hofapotheker hieß Dugend. Seine Vorräte bezog er - weitgehend über Wasserwege - aus Bremen, Hamburg und Amsterdam. Was darüber hinaus aus der heimischen Flora gesammelt werden musste, eben dafür war unsere gute alte Elsebeth da. 

  

*

 

Da es sich bei uns nicht um „Alteigentümer“ handelt, die um Generationen verspätet, einfach nach irgendeiner verstaubten uralten Aktenlage sich anschicken, arglose Menschen  von  Haus und  Hof zu vertreiben, mag uns auch diese  Information einfach nur als die  Träger unseres unverwechselbaren Namens erfreuen: Da gibt es in Hurrel,  Hurrelhausen 54, ein Zweiständer-Hallenhaus von 1844, ein ehemaliges „Heuerhaus“ mit der „Groot Dör“, noch vorhandenem „Düsselkopf“ und „Giebelschwellbalken“. So steht es im Führer zu Boden-, Bau- und Siedlungsdenkmälern für das Oldenburger Land beschrieben. Sollte ich bei Gelegenheit mal „Aug in Auge“ (sämtliche Fenster, bis auf leider eines, im alten Gemäuer bieten noch den ursprünglichen Anblick) diesem  Landhausveteranen gegenüberstehen, dann werde ich ihm schelmisch zublinzeln und bei mir denken: „Na, wir zwei beide Alten...“ Und  ähnlich könnte es mir mit  „Hurrelmanns Haus“ in Hurrel ergehen.  Auf diesem  Grundstück hat sich aller  Wahrscheinlichkeit nach einst unser Familienname geformt. Die ersten „von uns“ hießen noch „von Hurle“, obwohl sie mitnichten adelig waren, über „uppn Hurle“ geht es dann 1534 richtig mit Johan Hurlemann los.

Es ist ein Vorfahr zu erwähnen, der es höchstwahrscheinlich zu einigem gesellschaftlichen Ansehen gebracht hat. Jedenfalls ist in einem Buch eines gewissen Dr. Karl Sickert „Oldenburger Studenten auf deutschen und außerdeutschen Hochschulen“ zu lesen, daß 1651 an der Alma Mater Lipsiensis, an der Leipziger Universität, ein gewisser Theodorus Hurrelmann Delmenhorstensis immatrikuliert gewesen ist. Stefan Hurrelmann hat während seiner dortselbigen Studentenzeit versucht, Näheres über den Aufenthalt dieses Mannes an der altehrwürdigen Universität zu erfahren. Das gelang leider noch nicht, dazu waren die Wende-Wirren nach 1989/90 wohl nicht angetan. Ich las auch eine Mitteilung über einen Studenten namens Dietrich Hurrelmann (so hieß auch mein Vater!) aus Delmenhorst, der 1650 an der Universität Bremen studierte. Vielleicht ein Bruder von Theodorus?

Noch ein Geschichtchen darüber, wie man  durch fast unbeschreibliche Hartnäckigkeit an Fakten aus der Familiengeschichte gelangen kann, sei hier erzählt. Peter Hurrelmann hatte in Erfahrung gebracht, daß im Oldenburger Staatsarchiv (?) die Listen der  Auswan-derer, die im 19. Jahrhundert Deutschland in Richtung Amerika via Wilhelmshaven verließen, aufbewahrt werden. Deutsche Gründlichkeit hat genau festgehalten, wer damals wann mit welchem Schiff der Heimat den Rücken gekehrt hat, um jenseits des großen Wassers sein Glück zu versuchen. Es sind Zehn-, wahrscheinlich Hunderttausende gewesen. Die Listen, feinsäuberlich mit spitzem Federhalten in korrekter Sütterlinschrift geführt, stehen dem Forschenden heute als sogenannte Mikro-Fishes kopiert zur Verfügung. Und wer es selbst, in einem Archiv etwa, jemals „genossen“ hat, vor der Mattscheibe eines Lesegerätes derart archivierte Materialien „durchzublättern“ und dabei den schwindelerregenden Tanz irgendwelcher Schriftbilder vor seinen Augen verfolgt  hat,  wird  zu würdigen wissen, was Vater Peter und Tochter Wiebke auf sich nahmen, um die derart für die Ewigkeit aufbewahrten Passagierregister Namen für Namen zu durchforsten! Irgendwann war es dann soweit und Wiebke rief schallend in den Lesesaal:

 

„Da sind sie ja!“

 

Unter den laufenden Nummern 735 und 736 der Reisenden auf dem Dampfer „Werra“ (?) waren da Wilhelm und Anton Hurrelmann eingetragen, die am 12. April 18nn  in Philadelphia als Einwanderer in die Vereinigten Staaten von Nordamerika an Land gegangen waren. Soweit einiges zum Handwerklichen der Genealogie. Solchem Eifer müssen wir einfach dankbar Anerkennung zollen!

Selbstverständlich wurde solchen Spuren nachgegangen. Peter schrieb in die USA. Und so traf denn im Juli 1989 ein Brief von der „Germantown Historical Society“ aus Philadelphia bei ihm in Oldenburg ein. Eine Mrs. Lisabeth M. Holloway schreibt: „Ihre Erkundigung nach Eugen Heinrich Wilhelm Hurrelmann ist erst kürzlich bei uns eingetroffen. Es hat sich erwiesen, daß Herman Hurrelmann von 1884 bis 1888 das Geschäft eines - vermutlich - Lagerbierhandels in der 9. Straße Nr. 149 ausgeübt hat, und zwar nicht in Germantown, sondern in der Downtown von Philadelphia. 1989 betrieb er unter der gleichen Adresse ein Restaurant. 1890 erscheint er immer noch unter der gleichen Adresse, inzwischen aber als Handelsmann. Danach verschwindet er, aber 1903 ist seine Witwe, Margaret,  in der  11. Straße  Nr. 638 eingetragen, also ebenfalls in der  Downtown.  1894 wird Eugene Hurrelmann, Maschinist, als wohnhaft in der Pulaski-Straße Nr. 3721 geführt, welche in einem Stadtteil namens Nicetown liegt, ein einzelner Block südlich von der südlichen Ecke des  Bezirks  Germantown. Ich kann ihn in keinem weiteren  Verzeichnis entdecken, und zwar bis 1910, in welchem Jahr ich die Suche beendete. Weitere Hilfe kann ich Ihnen kaum noch bieten.“ 

 

In der Denkmalsliste: Hurrelhausen 54, ein Zweiständer-Hallenhaus

 

Ist es denn so einfach gewesen, mal „eben nach Amerika rüberzumachen“? Wohl nicht. Denn auch über die Mühen, die einer vor uns damit hatte, geben - selbstverständlich amtliche - Papiere erschöpfend Auskunft. Gut, daß sie einer unserer Ahnenforscher entdeckt hat, denn so komme ich in die Lage, hier daraus zu zitieren. Aufgehoben wurden diese Schriftwechsel, über die wir heute schmunzeln können, im Oldenburger Staatsarchiv. Den handelnden Personen wird wohl seinerzeit nicht so lächerlich zumute gewesen sein!

 

„Ganz gehorsamste Bitte des Stationsverwalters z.D. Hurrelmann in Badbergen, um nachträgliche Verleihung einer Entlassungsurkunde aus dem Oldenburgischen Staatsverbande für dessen Sohn Eugen Heinrich Wilhelm in Philadelphia.

Badbergen, 9. Juni 1887.“

 

„Ganz gehorsamst Unterzeichneter verlor am 5ten November 1883 seine erste Frau. Als Wittwer von 6 Kindern, nach vielen überstandenen Krankheiten in der Familie ohne entsprechende Geldmittel  gleich  nach  dem  Tode  seiner  Frau  2  Kinder auf dem Krankenlager, ein Kind im Kinderhospital, entschloß sich derselbe sich dem Anerbieten seines Bruders in Phyladelphia zwei der mutterlosen Kinder in Obhut zu nehmen, stattzugeben.“

 

„Im März 1884 ist Bittsteller mit seinem Sohn zum Amte Cloppenburg gegangen und hat mündlich um die fragliche Urkunde nachgefragt. Demselben ist damals durch Amtshauptmann Meyer eröffnet, daß, weil die Abreise der Kinder so nahe bevorstand, der Sohn auf Paß abreisen könne, die Urkunde baldmöglichst nachfolgen solle. Dessen Sohn ist Ende März auf Paß abgereist, die Urkunde aber nicht erfolgt.“

 

„Zu der fraglichen Zeit ... selten in Cloppenburg die ... und wird deshalb die Sache versäumt sein.. Bittsteller hat mit großer Mühe die zur Auswanderung erforderlichen Mittel erstritten, in der Voraussetzung, daß wegen der Urkunde keine Schwierigkeiten eintreten und sein Sohn sich in Amerika ein neues Heim erwerben könne. Zwei jüngst an das Amtsgericht Cloppenburg gerichtete Gesuche um nachträgliche Auswirkung der Urkunde sind abträglich beschieden worden.“

 „Unterzeichneter bittet Großherzogliches Staatsministerium ganz gehorsamst: So derselbe wolle die Urkunde für Eugen Heinrich Wilhelm, geboren am 19. Februar 1869 zu Sürwürderdeich  gütigst  nachträglich  verleihen  und  huldvollst  entgegennehmen,  daß  die Auswanderung vor dem 16ten Geburtsjahre und nicht geschehen, nur der Militair Dienst Pflicht auszuweichen.“

 

20. Juni 1887: „Amt Cloppenburg, Großherzogliches Staatsministerium, Department des Inneren. Bericht vom 20. Juni 1887 bei Rücksendung des Gesuches des Stationsverwalters z.D. Hurrelmann in Badbergen um nachträgliche Verleihung einer Entlassungsurkunde für seinen Sohn Eugen Heinrich Wilhelm, geboren am 19. Februar 1869. Mit Anlagen.“

 

„Bei Rücksendung obigen Gesuches beehrt sich das Amt folgendes gehorsamst zu berichten: Die Angaben des Bittstellers, daß er im Jahre 1884 aber nur einen Paß erhalten habe, mit der Zusicherung, daß eine

 

Entlassungsurkunde

 

nachfolgen werde, sind nicht nur unwahrscheinlich, sondern nach dem vom Amt eingezogenen Erkundigungen auch unwahr. Der (Titel) Lichtenberg erinnert sich noch, daß im Jahre 1884 Hurrelmann nur einen Paß für seinen Sohn verlangt habe, daß aber eine Entlassungsurkunde damals nicht gefordert sei. Ferner erklärt der Amtsbote Lücke, er habe den Hurrelmann mehrmals auf dem Bahnhof gesprochen, und ihm gesagt, er solle sich damit beeilen, daß er beim Amte eine Entlassungsurkunde für seinen Sohn bekäme, bevor derselbe das 17. Lebensjahr vollende, weil er später eine solche nicht mehr erhalten werde, doch Hurrelmann habe darauf geantwortet, er habe eine Entlassungsurkunde nicht nötig, sein Sohn sei jetzt in Amerika und wurde dort eine Entlassungsurkunde nicht verlangt. Da es nun nicht genügt, daß der Antrag auf Entlassung vor vollendetem 17. Lebensjahre gestellt wird, sondern die Entlassung vor vollendetem 17. Lebensjahr ertheilt wird, so hätte Hurrelmann selbst in dem Falle, daß er den Antrag rechtzeitig gestellt hätte, sich bemühen müssen, auch rechtzeitig eine Entscheidung darauf zu bekommen. Er hat sich aber seit 3 Jahren gar nicht um die Angelegenheit gekümmert. Das Amt hat daher auf Grund dieser Ermittlungen und Thatsachen es abgelehnt, nach vollendetem 17. Lebensjahr seines Sohnes noch auf den Antrag des Hurrelmann einzutreten.

Amt Cloppenburg.“

 

30. Juni 1887: „An den Herrn Stationsverwalter z. D. Hurrelmann, Badbergen. Auf Ihre Eingabe vom 9.12. ... betr. Die nachträgliche Verleihung einer Entlassungsurkunde für Ihren Sohn Eugen Heinrich  Wilhelm  Hurrelmann erwidert das  STM,  daß es im Hinblick auf die  Bestimmung § 15 Z.1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes nicht in der Lage ist, die erbetene Entlassungsurkunde  zu ertheilen, bevor nicht von  Ihnen ein  Zeugnis der  Ersatzcommission Ihres jetzigen Wohnsitzes darüber beigebracht sein wird, daß die Entlassung von Ihrem Sohn nicht bloß in der Absicht nachgesucht wird, um sich der Dienstpflicht im ... Heere oder Flotte zu entziehen.“

 

26. April 1888: „Auf dem Amte zu Elsfleth geschehen, 26. April 1888, vormittags. Gegenwärtig: Amts ... Schneider.

Es erschien der Stationsverwalter Carl Gerhard Friedrich Hurrelmann von hier und trug vor:  Mein Sohn  Eugenius Heinrich Wilhelm  Hurrelmann, geboren am 19. Februar 1869 in Sürwürderdeich, ist im Frühjahr 1884 nach Philadelphia, Nordamerika, ausgewandert und wünscht, da er dort zu bleiben gedenkt, seine Entlassung aus dem diesseitigen Staatsverbande. Schon im vorigen Jahre habe ich von Badbergen aus die Ausfertigung der Entlassungsurkunde beim Großherzoglichen Staatsministerium beantragt und darauf die anliegende Resolution de dato 30. Juni 1887 erhalten. Die in dieser  Verfügung geforderte Bescheinigung der Ersatzcommission sowie den Geburtsschein meines Sohnes überreiche ich hierbei und bitte die Ausfertigung der Entlassungsurkunde für meinen Sohn veranlassen zu wollen. Comparent ist auf die Folgen der Entlassung gemäß Ministerial-Verfügung vom 28. Juli 1886 hingewiesen. Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben.

C. Hurrelmann“

 

Uff. Heute kann es für manchen Heimatlosen genau so schwierig sein, nach Deutschland hineingelassen zu werden... Die hier zu lesende amtsdeutsche Sprache mutet mich an, als sei sie im Mittelalter zu  Papier gebracht worden.  Der aufmerksame  Leser wird kombiniert haben, daß es sich bei diesem staatsbürgerschaftsrechtlich so umkämpften Hurrelmann gewiß um den Lagerbierhändler Eugen gehandelt hat. Im 21. Jahrhundert wird in diesem unseren Lande einer, der aus Gründen wie einst jener Eugen bei uns einzureisen und sesshaft zu werden versucht, ein ‚Wirtschaftsasylant’ genannt...

Freuen wir uns nun noch über eine Eintragung in einem amerikanischen Telefonbuch von 1951: Walter Hurrelmann aus C 33 ‚Fisher Av war damals unter White Pis 8-5245 zu erreichen.

 

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Verschiedenes aus Urkunden, die mein Vater in den dreißiger Jahren beibringen musste, soll hier auch angeführt werden. Schon, um die Tonart solcher Dokumente aus dem 18. Jahrhundert mal kundzutun. Da gibt es einen Trauungsschein aus der Diöcese Seckau: „Aus dem Trauungsbuche der Pfarre St. Peter bei Graz tom. XII pag 10  wird hiermit beurkundet,  daß  am  19ten  Februar  1866  /Eintausend acht hundert sechzig sechs/  vom Hochw. Ortskaplan Johann Aichner m.p. nach christl-katholischem Gebrauche ehelich getraut und eingesegnet worden sind:

 

Bernhard Hurrelmann, evangelisch-augsburger Confession - 29 Jahre alt, ledig, gebürtig von Abbehaagen im Großherzogtum Oldenburg, ehelicher Sohn des Peter Heinrich Hurrelmann, Sattlers und Grundbesitzers in Ellwürden und der Ahlke Margarethe geborene Ankeln, beide verstorben, wohnt in der Hofgasse N. 56 in Graz als bürg. Taschner,

und

Maria Theresia Kubath, katholischer Religion22 ½ Jahre alt, ledig, gebürtig von Waltersdorf hier, eheliche Tochter des H. Ignaz Kubath, Schneidermeisters und der Theresia geborenen Koll, beide katholisch und am Leben - wohnt bei ihren Eltern in Waltersdorf No. 40 dies. Pfarre.

Beistände sind: H. Anton Kuderweg, Schneidermeister und H. Josef Kossergg, bürg. Taschnermeister.

Urkund dessen die gesetzte Fertigung.

 

Pfarre St. Peter bei Graz 19. Mai 1868.

Franz Kunischer m.p., Pfarrer.“

 

Hiermit liegt uns eine jener Urkunden vor, die beim ersten Hurreltreffen Pfingsten 1990 die Aufmerksamkeit des Regensburger Arztes weckten und die zur Aufdeckung unserer direkten verwandtschaftlichen Verbindung führte.

 

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In jüngerer Zeit, da Ahnenforschung längst nichts mehr (oder noch nicht schon wieder???) Anrüchiges an sich hat, kann man auch in der örtlichen Presse meist Nachrichten über Hurrelfrauen oder -männer lesen.

„Dorfabend in Ipwegermoor“ steht über einem Artikel von 1950. Auch schon wieder über ein  halbes  Jahrhundert her und damit eigentlich schon  „historisch“!  Er beginnt mit dem Zitat einer wörtlichen Rede von Hauptlehrer Hurrelmann: „Hier is nich faken wat los, awer wenn wi de Hollschen mal uthebt, denn teht wi se ock nich so gau wedder an.“

Diese Worte sprach er anlässlich einer Feier, die zu seinem 25jährigen Dienstjubiläum als „Einklässler“ stattfand. 35 Jahre insgesamt war er damals im Schuldienst. Sechzig Dorfkinder hatte er unter seiner Obhut. Der  Festredner würdigte „unseren Hurrelmann“ sowohl als Erzieher der Jüngsten der Dorfschaft wie auch als allzeit fröhlichen und hilfsbereiten Nachbarn. Er habe des öfteren Gelegenheit gehabt, eine besser bezahlte und leichtere Stelle anzunehmen, sei aber nie aus Liebe zu seinem kleinen Ipwegermoor darauf eingegangen.

1956 fanden unsere Spürnasen diesen Beitrag in einem Lokalblatt: „Goldene Hochzeit in Nordmentzhausen. An der Landstraße zwischen Neustadt und Mentzhausen steht eine schöne Bauerei; hier wohnt Heinrich Hurrelmann und Frau Kathariene geborene Westerholt. Heinrich Hurrelmann zog nach der Schulzeit hinaus, um die ‚Geheimnisse’ der Landwirtschaft zu erlernen. So kam er auch nach Strückhausen und lernte in Colmar seine treue Lebensgefährtin Kathariene kennen. Heute vor 50 Jahren (Erscheinungstag 21.April 1956) standen beide in Strückhausen vor dem Traualter und gingen den Bund der Ehe ein. Freud und Leid haben beide erlebt und immer hart gearbeitet, um sich eine sichere Existenz zu schaffen. In Mentzhausen wurde zunächst eine Landstelle gepachtet und später eine andere gekauft, auf der die beiden Jubilare noch heute recht fleißig tätig sind. Im Kriege 1914/18 verlor Heinrich Hurrelmann einen Fuß und trägt seitdem eine Prothese. Drei Kinder gingen aus der Ehe hervor, von denen leider nur noch eins lebt, die Tochter, die mit ihrem  Mann die Landstelle bewirtschaften hilft.  Stolz sind die  Hochbe-tagten auf ihren kleinen Enkel, der viel Freude ins Haus bringt.“ Ein Schicksal im 20. Jahrhundert.

Oder ein anderes Beispiel im Märzheft von 1991 der Gärtnerzeitung „Kraut und Rüben“. Da ist in einem Artikel vom „Bremer Aalonkel“ die Rede. Früher, bis 1929, war der als Stewart auf großen Pötten zur See gefahren. Doch gegen Ende der zwanziger Jahre wurde er arbeitslos und begann mit fünf Pfund auf Kredit gekauften Aalen einen Fischhandel, der ihm mehr als drei Jahrzehnte lang ein gutes Auskommen sicherte und ihm seinen Spitznamen einbrachte. Weshalb das hier vermerkt wird? Ganz einfach! Der gute Mann, ein passionierter Kleingärtner (deshalb der Artikel), hieß Hans Hurrelmann. Er war unverheiratet und lebt wohl inzwischen nicht mehr. Sonst wäre er sicher eine Art

 

Ehrengast in unserer Ahnen-Runde!

 

Damit wäre zunächst alles aufgearbeitet, was ich zur „Sache Hurrelmann“ weiß. Letztmalig gebe ich an dieser Stelle freimütig zu, daß ich das meiste davon abgeschrieben habe. Mit Wissen der drei Forscher. Bei denen ich mich sehr herzlich bedanke. Und nun bin ich gespannt auf unser nächstes Treffen in Hurrel, im Oktober 2002, bei dem ich hoffentlich viel Neues erfahren möchte, das hier einzufügen wäre...

 

 

Klaus Hurrelmann, Berlin, im September 2002

Spannende Infos.

In Hurrel...

...und Bollenhagen.